Achtsamkeit in Psychotherapie und Psychosomatik

Das Buch hat vier große Abschnitte.

Buchtitel: Achtsamkeit in Psychotherapie und Psychosomatik - Haltung und Methode (2.neu bearbeitete und erweiterte Auflage)
AutorInnen: Anderssen-Reusser U (Hg)
Verlag: Schattauer
Erschienen: 2011

Im ersten Abschnitt geht es um Achtsamkeit aus der Perspektive europäischer Philosophie und Mystik. Der erste Beitrag dazu befasst sich mit Annäherungen der abendländischen Philosophie an die Achtsamkeit. Sei es im Begriff der Meditation, der philosophischen Lebensführung, der phänomenologischen Enthaltung (epoché), der Intentionalität als immanenter Prozess. Originell ist die Konstatierung von Berührungen zwischen der Position des eliminativen Materialismus und dem Konzept der Achtsamkeit: Beide sehen das Illusorische Im Ichbegriff (ob das Subjektiv-Mentale beim Materialismus dem Vorläufigen des Ichs beim Konzept der Achtsamkeit sehr nahe kommt, müsste weiter analysiert werden). Eckharts Mystik, die Spiritualität des Alltags bei Ignatius von Loyola, und Buddhas Weg der Befreiung aus dem universalen Leiden sind weitere Inhalte dieses Abschnittes.

Der nächste Abschnitt setzt sich auseinander mit der Achtsamkeit zwischen Therapie und Spiritualität. Es werden verglichen Achtsamkeit und gleichschwebende Aufmerksamkeit (Die Anwesenheit des anderen, die Individualität, die Ausrichtung auf Erkenntnis sind Unterscheidungskriterien), Meditation und Achtsamkeit (psychische und kognitive Entwicklung einerseits und spirituelle Entwicklung andererseits müssen als zwei eigenständige Förderbereiche angesehen werden). Erörtert werden außerdem Präsenz, Einsicht, Geistesgegenwart und Achtsamkeit. Der Autor unterscheidet eine therapeutische Achtsamkeit mit Stärkung der Erkenntnis von Ich und Selbst, und eine erleuchtete Achtsamkeit, der es um die Überwindung der Ich-Selbst-Spaltung geht und um das Heraustreten aus der Identifikation mit „Jemand“. Der Abschnitt wird abgeschlossen mit einer Betrachtung der Frage: Ich-Stärkung oder Selbst-Überwindung. Die Herausgeberin unterscheidet darin zwischen dem präreflexiven Ich und dem reflexiven, zum eigenen Ich Stellung nehmenden Selbst. Der Psychotherapie kann es – anders als dem Erlösungsweg - nicht um die Transzendierung des subjektiven Bezugsrahmens gehen, vielmehr muss die integrierende und strukturierende Funktionsfähigkeit des Ichs des Patienten gestärkt werden. Aber, das subjektive Selbstkonzept kann hinterfragt werden. Und: das Verfügen über ein funktionierendes Ich kann trotzdem nicht verhindern, dass man unter einem falschen Selbst leidet. Gegenüber Selbstbestimmung und Förderung der Subjektivität, des Kohärenzgefühls und eines stimmig erlebten Narrativs geht es beim achtsamen Weg nicht um die Bewertungen, Interpretationen und Kommentierungen, sondern um ein Loslassen.

Der nächste Abschnitt thematisiert Achtsamkeit als Haltung in der Psychotherapie, in der Behandlung von Suchterkrankungen (hier werden craving und clinging sogar als Merkmale der conditio humana bezeichnet und die Hoffnung wird als Verurteilung der Gegenwart und als Erwartung einer notwendig von außen kommende Erlösung sowohl in der Abhängigkeitsproblematik als auch in der Struktur der Erlösungsreligionen aufgespürt). Ein Beitrag in diesem Abschnitt beschreibt, wie man die stationäre Psychotherapie achtsam gestalten kann: durch Meditationsräume, Andachtsplätze, einen Weg der Weltreligionen, Tage der Stille, Achtsamkeitskultur, Achtsamkeitsregeln, Achtsamkeitsrituale, Achtsamkeitsschulungen mit z.B. 100 Minuten Achtsamkeitstraining wöchentlich usw. (Beim Rezensenten entstand einerseits ein großer Respekt vor der konsequenten Durchkonzipierung und Operationalisierung von Achtsamkeitschancen und -anregungen; andererseits erhob sich die Frage, inwieweit auch die Gefahr eines Zuviel an präformierten Gelegenheiten und Anleitungen bestünde, ein Zauberberg-Flair des Besonderen mit Transferproblemen für den Alltag).

Ein abschließender Beitrag beschreibt „Navigationskarten“ der Achtsamkeit, die auf das Koordinatenkreuz Individuum – Kollektiv und Wachstum –Transformation und die sich daraus ergebenden Felder eingehen. Es gibt Illustrationen, die diesen beigefügten, nachdenklich stimmenden Sätze sind eindrücklicher als die Karikaturen.

Ein weiterer Abschnitt befasst sich mit achtsamkeitsbasierten spezifischen Therapiemethoden wie z.B. konzentrativer Bewegungstherapie, Interventionen bei chronischen Schmerzen, die Akzeptanz-Verhaltenstherapie bei generalisierten Angststörungen, achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie bei Depressionen.

Ein abschließender Abschnitt bringt empirische Ansätze: psychophysiologische Überlegungen, psychometrische Methoden etc.

Interessante Akzente setzen die beiden Geleitworte und das Vorwort der 2. Auflage. Bohus wirft in bewegenden Fragen die Problematik der Intendierung und Nutzbarmachung des Absichtslosen auf, Achtsamkeit als Rezeptur. Reddemann betont die zentrale Rolle des Mitgefühls und vermisst diese bei z.B. Montaigne (der allerdings andere Intentionen hatte, nämlich die Durchleuchtung menschlicher Schwächen), Anderssen-Reuster propagiert den Ausstieg aus der egozentrischen Selbstumkreisung in einem ökologischen Verstehen.

Das sehr detaillierte Inhaltsverzeichnis ist mit seinen 12 Seiten fast schon ein Exzerpt. Mit einem 11 Seiten umfassenden Verzeichnis erweist die Herausgeberin den Autorinnen und Autoren viel achtsamen Respekt.

Resümee: Es ist ein interessantes, informatives und anregendes Werk gelungen, das eine große Leserschaft – nicht nur in psychotherapeutischen Fachkreisen – verdient!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
04.04.2012
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/achtsamkeit-in-psychotherapie-und-psychosomatik-haltung-und-methode.html
Kostenpflichtig
nein