Liebe und Aggression. Eine unzertrennliche Beziehung

Das Buch ist eine Sammlung von Abdrucken von Vorträgen und Beiträgen in Fachzeitschriften, wobei es immer um folgende Themenbereiche geht: Schwere Persönlichkeitsstörungen, Paarkonflikte, psychoanalytische Forschung, Ausbildung..

Buchtitel: Liebe und Aggression. Eine unzertrennliche Beziehung.
Autor: Kernberg O F
Verlag: Stuttgart: Schattauer
Erschienen: 2014 

Zum Inhalt

Das Buch ist eine Sammlung von Abdrucken von Vorträgen und Beiträgen in Fachzeitschriften, wobei es immer um folgende Themenbereiche geht: Schwere Persönlichkeitsstörungen, Paarkonflikte, psychoanalytische Forschung, Ausbildung. Es gliedert sich in vier Teile: Schwere Persönlichkeitsstörungen,  psychoanalytische Theorie und ihre Anwendungen, die Psychologie der sexuellen Liebe, Herausforderungen für die Psychoanalyse und die Psychologie des religiösen Erlebens.

 

Trotz hochkomplexer Inhalte gelingt dem weltbekannten Psychiater, Psychoanalytiker und Autor vieler einschlägiger Fachbücher eine verständliche, klare Vermittlung. Kernberg redet zu seinen Lesern und Zuhörern und man fühlt sich angesprochen. Sein Zielpublikum ist mit Sicherheit ein Adressatenkreis mit umfassenden Vorkenntnissen, wobei diese Eigenschaft nicht durchgängig vorausgesetzt scheint: so wird als Beispiel die nachfolgende Formulierung  mit einer Selbstverständlichkeit vorgebracht, die keinerlei kognitive Verdauungshilfe für notwendig erachtet, aber auf interessierte, aber fachfremde Leser z.T. sehr spekulativ und ohne entsprechende Vorbildung schwerverständlich wirken kann: "Freud sieht den Anfang der Religion in den ursprünglichen Konflikten .um die Ermordung des Vaters durch die Urhorde begründet, mit dem Totemismus als Vorläufer des Polytheismus und dem Monotheismus als höchster Form in der Entwicklung der Religion." (Seite 315)  Andererseits werden so grundlegende Konzepte wie die Einsicht erörtert (Seite 25f). Dies entpuppt sich aber nicht als Einführungstextbaustein für Neuzugänge, sondern  ist eine subtile Binnendifferenzierung und Wechselwirkungsanalyse von verwandten Konzepten, nämlich, Mentalisierung, Einsicht, Empathie und Achtsamkeit.

 

Die Ausführungen zur Religion und zum Spirituellen zeigen Möglichkeiten einer psychoanalytischen Betrachtung der Religiosität auf und machen gleichzeitig ihre Grenzen sichtbar: Letztlich bleibt die Tiefenpsychologie dem Deskriptiven (realer Erfahrungen; aber auch vermuteter Prozesse) verhaftet, sie kann nicht eine Anthropologie des Bösen geben, ihre Beschreibungen sind alle schon einen Schritt weiter, das Böse wird in seiner  idealistischen oder realistischen. Existenz schon vorausgesetzt und wird nun in seinen Wirkungen und Wechselwirkungen beschrieben und zwar -. und dies ist die eigentliche Leistung einer Psychoanalyse der Religiosität – in einem terminologischen Transfer zur tiefenpsychologischen Begrifflichkeit.  So besteht das Böse in einem Kampf zwischen Libido und Aggression. Je nachdem, ob der Todestrieb oder die Libido mehr Gewicht hat, ist das Ergebnis böse oder gut. Allerdings sieht Kernberg das komplizierter und komplexer: Aufgrund fehlender Belege für eine biologische Basis neigt man dazu, das Triebkonzept zu modifizieren und das Interesse den Affekten, d.h. primären Motivationssystemen zuzuwenden. Mit den Affekten sind Objektrepräsentanzen verbunden, d.h. die Affekte werden mit dem Kontext, in dem sie sich manifestieren, abgespeichert. Das Ursprüngliche sind die Motivationssysteme (Affekte), sie sind in übergeordneten Trieben organisiert und diese werden durch entsprechende Objektrepräsentanzen aktiviert.

 

 Albert Görres (Das Böse, 1982, Seite 27) betont, dass Freud von der Triebdreiheit Libido, Aggression und Egoismus ausgegangen sei. Die Ichzentriertheit entscheidet über das gute oder böse Zusammenwirken von Libido und Aggression. Kernberg äußert sich nicht dezidiert  dazu, auch nicht zur Wahrheitsfrage des Bösen, zur Ontologie des Bösen, zur genetischen Ausgangsbasis,  er möchte keine Berührung mit der Philosophie und keine Weltanschauung: „die Psychoanalyse kann nur Antworten auf die Frage nach den Ursprüngen universeller ethischer Systeme geben, jedoch keine Auskunft über deren Wahrheitsgehalt: Sie kann nicht zu einer Weltanschauung werden.“ (Seite 335). Der Psychoanalytiker ist weder Seelsorger, noch geistlicher Führer, aber er kann Hindernisse auf dem Entwicklungsweg zu einer reifen Religiosität bearbeiten: Themen sind dann Fähigkeit zur Anteilnahme, Schuldgefühle, Wiedergutmachung, Vergebung, Verantwortung, Gerechtigkeit (ebd.). Der Therapeut soll moralisch sein, ohne ins Moralisieren zu verfallen (Seite 63). Er muss darauf achten, sei eigenes Wertsystem nicht dem Patienten aufzustülpen.
Das Böse ist also bei Kernberg nicht etwa das ungelebte Schattenpotential, nicht der Mangel an Gutem und andere Defizite, nicht die Unentschlossenheit, die sich jedem Engagement verschließt, sondern es besteht in einem Ungleichgewicht zugunsten der Auswirkungen des Todestriebes. Wenn der Hass vorherrscht und nicht die Liebe, hängt dies mit eindrücklichen negativen intensiven Affekterlebnissen und ebenso negativen Objektbeziehungen zusammen. Was gegenüber der Formulierung von Görres fehlt, ist eine Beschreibung der konstruktiven und nicht nur destruktiven Wirkung der Aggression. Dies geschieht, weil sich Kernberg auf die schweren Persönlichkeitspathologien konzentriert. Konzipiert man Libido und Thanatos als zwei Grunddimensionen des Lebensvollzugs, nämlich das Streben nach Beziehung, Zugehörigkeit und Durchsetzung, Besonderheit, dann wird klar, dass Aggression keinen ausschließlich negativen touch bekommen muss, sondern in einer ausgewogenen Legierung konstruktive Wirkung zeigt.

 

Manchmal wird eine Originalität beansprucht und dabei übersehen, dass der Inhalt in basaler Form schon längst Allgemeingut ist. Beispiel: Bion wird aus dem Jahr 1970 zitiert, er sieht die Grundkonstruktion des Menschen so, dass sogenannte Scheitelpunkte den Ausdruck von Libido bestimmen und Orientierungswegweiser für den Realitätsbezug darstellen. Er habe dadurch das Verständnis für die Grundstrukturen des Ãœber-Ichs erweitert. Diese Scheitelpunkte sind der epistemologische (wichtig für Wahrheitsfindung, -bestimmung), der ästhetische (Suche nach Schönheit) und der ethische Scheitelpunkt  (Streben nach dem Guten). (Seite 324). Hier könnte man verweisen auf das Österreichische Schulorganisationsgesetz, das schon 1962 in einemBundesgesetzblatt aufscheint und als § 2. Aufgabe der österreichischen Schule, Abs. 1:formuliert:"Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken". Von Plato ganz zu schweigen. Ebenso hätte man bei der Beschreibung der dyadischen Einheit jeder abgespaltenen Objektbeziehung, bestehend aus Selbstrepräsentanz, Objektrepräsentanz und den beide verbindenden dominanten Affekt auf Konzept bzw. Methode des Zentralen Beziehungskonfliktes hinweisen können.

 

Das Buch enthält viele „Leckerbissen“, z.B. die Auflistung von Gegenübertragungskomplikationen wie Hass, Arroganz, Beziehungslosigkeit zum Therapeuten, Gefühllosigkeit; die Drei-Personen-Psychologie (Patient, Psychoanalytiker als Gegenübertragender und Psychoanalytiker als reflektierender Beobachter. Diese Spaltung des inneren Erlebens des Analytikers hat ein interessantes Gegenüber – meint der Rezensent – in der Ich-Spaltung bei imaginativen Psychotherapien: Der Patient erlebt die Imagination und beschreibt sein Erleben). Sehr berührend und überzeugend sind die Ausführungen zum Trauerprozess, z.B. in der Form, dass man vom Verstorbenen ein Mandat erhalten hat, seine Lebensziele weiter zu verfolgen. Interessant sind die Ausführungen zur Rolle des Über-Ichs in der Sexualität. Etwas enttäuschend sind die Ausführungen zum Thema: Liebe und stabile Paarbeziehung, auf knapp einer Seite wird behauptet „Unbewusst wird ein Gleichgewicht hergestellt, mit dessen Hilfe die Partner die jeweils dominante pathogene Objektbeziehung der Vergangenheit komplementär ergänzen und so ihre Beziehung auf neue und unvorhersehbare Art und Weise festigen.“ Dies stimmt schon, aber die Überschrift ließ eine umfassendere Antwort erhoffen. Sehr interessant sind die vielen Ausführungen zur Gegenübertragung, Kernberg stellt diese ja an einen zentralen Platz in seiner übertragungsfokussierten Psychotherapie. Kritisch anzumerken ist nur die Frage, inwieweit der Therapeut bei der geforderten Komplexität der Reflexion der Übertragung-Gegenübertragung noch präsent sein kann. Die evaluativen Daten dürften aber die Bedenken zerstreuen.
Eine Anmerkung zu den Fallberichten. Diese erleichtern das Verständnis durch prägnante Beispiele. Wohltuend ist die Konzentration auf das Wesentliche, Kernberg verfällt nicht dem  Fehler, eine in ihrer Detailgenauigkeit überhaupt nicht notwendige umfassende Anamnese darzustellen und den Leser durch nicht relevante Einzelheiten zu ermüden. Wohltuend ist aber auch die Offenheit, mit der Fehler und das gelegentliche Misslingen der Therapie ohne Beschönigung mitgeteilt werden.

 

Es ließe sich noch viel mehr anführen, aber das würde den Rahmen sprengen.
Kernberg ist ein Vordenker, der ganze Generationen von Psychoanalytikern und Psychotherapeuten beeinflusst hat. Seine bahnenden Ideen und Annahmen sind therapeutisch fruchtbar bzw. regen zu einem Reflexionsprozess an! Seine Gedanken zu Liebe und Aggression sind stimulierende Impulse für die Theorie und Praxis der heilenden Begegnung in Psychoanalyse und Psychotherapie!

 

 

 

 

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
28.07.2014
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/liebe-und-aggression-eine-unzertrennliche-beziehung.html
Kostenpflichtig
nein