Grundsatzempfehlungen zur Prävention von Ess-Störungen

Empfehlungen für Präventionsmaßnahmen in der Schule
Erarbeitet von:
Mag. Michaela Ferge (Amt der Oö. Landesregierung)
Dr. Alexandra Lagemann
Dr. Elisabeth Mayr - Frank (OÖ GKK)
Mag. Ingrid Rabeder - Fink (Institut für Suchtprävention)

Linz, März 2002

Erarbeitet von:


Mag. Michaela Ferge (Amt der Oö. Landesregierung)

Dr. Alexandra Lagemann


Dr. Elisabeth Mayr - Frank (OÖ GKK)

Mag. Ingrid Rabeder - Fink (Institut

für Suchtprävention)

Linz, März 2002


Empfehlungen für Präventionsmaßnahmen in der Schule

Hintergrund

Gestörtes Essverhalten wie z. B. exzessives Diät halten, Essanfälle,

induziertes Erbrechen ist in den Industrienationen weit verbreitet. Von klinischen

Formen der Essstörungen sind vor allem Frauen und Mädchen betroffen.

Über die Häufigkeit von Essstörungen liegen keine für

ganz Österreich repräsentativen Zahlen vor. Überträgt man

die Prozentzahlen anderer westlicher Industrieländer (Anorexie: 1Prozent

der 15-20jährigen Mädchen, Bulimie: 2 – 4 Prozent der 20-30jährigen

Frauen, Krüger1997, 26) auf Österreich ergibt sich nach G. Rathner

auf der Basis des Mikrozensus 1991 folgende Schätzung: Von allen 15 -

20jährigen Mädchen leiden 2.500 an Magersucht und über 5.000

an einer subklinischen Essstörung. Unter 20 - 30jährigen Frauen finden

sich 6.500 mit einer Ess-Brechsucht. Insgesamt erkranken 200.000 Österreicherinnen

zumindest einmal in ihrem Leben an einer Essstörung (Rathner, Netzwerk

Essstörungen).

Nach einer Studie in Wien (9. Schulstufe) haben 50,7 % der Mädchen Diäterfahrungen,

34 % haben Angst zuzunehmen, 12,7 % haben bereits erbrochen um ihr Gewicht

zu regulieren (De Zwaan 2000).


Obwohl die Aufmerksamkeit bezüglich Essstörungen bei Untergewichtigkeit

liegt, ist darauf hinzuweisen, dass übergewichtige Jugendliche das größte

Risiko für Diäten, gestörtes Essverhalten und Unzufriedenheit

mit dem eigenen Körper haben (Kolip 1998). Übergewicht stellt in

den Industriestaaten ein zunehmendes Gesundheitsproblem dar. Laut Journal

für Ernährungsmedizin stieg der Anteil der Adipösen seit 1991

um 30 Prozent, bereits 11 Prozent der ÖsterreicherInnen sind adipös.

(Kiefer, 2001).

Für die Prävention von Essstörungen ist die Auseinandersetzung

mit Risiko- und Schutzfaktoren zentrale Voraussetzung:

Risiko- und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Essstörungen

(nach Kolip 1998)

Persönlichkeitsbezogene Faktoren

     

     

  • Entwicklungsfaktoren
    (z. B. Alter, Geschlecht, pubertäre Entwicklung, Body Mass Index, kognitive Entwicklung)
  •  

     

  • Kognitive/affektive Faktoren
    (z. B. ernährungsbezogenes Wissen und Einstellung zur Ernährung, Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt, differenziertes Denken, breites Spektrum an Bewältigungsstrategien)
  •  

     

  • Psychologische Faktoren
    (z. B. Selbstwertgefühl, Körperbild, Wunsch nach Schlankheit, Depression, Ängstlichkeit, Selbstwirksamkeitserwartung)
  •  

     

  • Verhaltensbezogene Faktoren
    • Ernährungverhalten (z. B. Variation in den Nahrungsinhalten, Vielfalt der Mahlzeiten, Essanfälle, Fähigkeiten der Nahrungszubereitung)
    • Diäten und andere Maßnahmen zur Gewichtsreduktion (z. B. Frequenz der Diäten, Diättypen, Erbrechen)
    • Körperliche Aktivität (z. B. sportliche Betätigung, tägliche Bewegung)
  •  

     

Soziale und umweltbezogene Faktoren

     

     

  • Soziokulturelle Normen
    (z. B. hinsichtlich Schlankheit, Essen, Nahrungszubereitung, Rolle der Frau)
  •  

     

  • Familiale Faktoren
    • Kommunikation: Klarheit, Direktheit, klare Grenzen setzen und die Grenzen anderer akzeptieren, nein sagen dürfen, Empathie)
    • Beschäftigung mit dem Gewicht, Familienmahlzeiten
  •  

     

  • Normen und Verhalten der Gleichaltrigen
    (z. B. Diäten, Ernährungsmuster, Beschäftigung mit dem Gewicht, sozialer Druck)
  •  

     

  • Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln
    (z. B. Art und Menge verfügbarer Nahrungsmittel)
  •  

     

Zusammenfassung: Risiko und Schutzfaktoren für die Entwicklung von Essstörungen

Risikofaktoren

Risikofaktoren auf individueller Ebene:

       
  • mangelndes Selbstwertgefühl
  •    
  • Umbruchsituationen (z. B. Pubertät,Trennungen)
  •    
  • Ständige Unterdrückung aggressiver Impulse
  •    
  • Definition der Persönlichkeit ausschließlich über das Aussehen
  •    
  • chronisches Ausweichen vor Konflikten
  •    
 

Schutzfaktoren

Schutzfaktoren auf individueller Ebene:

       
  • Selbstvertrauen
  •    
  • realistische Einschätzung
  •    
  • positives Körperbild, Körperwahrnehmung
  •    
  • Grenzen setzen
  •    
  • Gefühle zulassen und ernst nehmen
  •    
  • Konfliktfähigkeit
  •    
  • Problemlösungsstrategien erweitern
  •    
  • Eigeninitiative
  •    

 

Risikofaktoren auf der Ebene des sozialen Nahraums:

       
  • wenig Anerkennung und Aufmerksamkeit
  •    
  • starre und überkommene Geschlechtsrollen
  •    
  • wechselnde Bündnisse innerhalb der Familie
  •    
  • Negieren von negativen Gefühlen
  •    
  • Abwertung des weiblichen Verhaltens
  •    
  • ungleiche Verteilung des Lebensraumes
  •    
  • Grenzüberschreitungen
  •    

Schutzfaktoren auf der Ebene des sozialen Nahraums:

       
  • Unterstützende Beziehungen und Vorbilder
  •    
  • Grenzen respektieren
  •    
  • Erweiterung der Erlebniswelten
  •    
  • Streitkultur
  •    
  • Differenzierte männliche und weibliche Geschlechtsrollen
  •    
  • Förderliche Kommunikationsstile und Wertschätzung in der Familie
  •    
  • Positive weibliche und männliche Vorbilder
  •    

 

Risikofaktoren auf gesellschaftlicher Ebene:

       
  • Krankhafte Schönheitsideale
  •    
  • Gesellschaftliche Ungleichstellung von Frauen und Männern
  •    
  • Widersprüchliche/überhöhte Anforderungen an junge Frauen, Leistungs- und Anpassungsdruck
  •    

Schutzfaktoren auf gesellschaftlicher Ebene:

       
  • Rollenvielfalt
  •    
  • Anerkennung verschiedener Lebensformen
  •    
  • differenzierter Sprachgebrauch
  •    
  • Hinterfragen der Schönheitsideale
  •    
  • Kritische Auseinandersetzung mit der Wirksamkeit der Medien
  •    

 

Risikofaktoren auf Ebene „Essen“:

       
  • Diätangebote
  •    
  • rigide Essenskulturen
  •    
  • fehlende Essensrituale
  •    

 

Schutzfaktoren auf der Ebene „Essen“:

       
  • Ess-Kultur
  •    
  • Genussfähigkeit
  •    

Aus den gegebenen Schutz- und Risikofaktoren lassen sich folgende

Empfehlungen

für die Prävention von Essstörungen ableiten:

Ansatzpunkte - zur Prävention in der Schule

     

     

  1. Strukturelle Ansatzpunkte
    • Schule als Werbefläche
      Das Anbringen von Werbeplakaten mit Models, die Körpernormen vermitteln, die die Entwicklung von Essstörungen begünstigen, oder entsprechende Frauenbilder/Männerbilder/Rollenklischees abbilden erscheint als kontraproduktiv.
       
      Begründung: Mädchen stehen mehr noch als Jungen unter dem Einfluss kultureller Normen und reagieren leichter auf den Zwang, der von standardisierten Schönheitsidealen ausgeht. Vor allem die unreflektierte Orientierung am Typ „Superfrau“ (erfolgreich, attraktiv, alles im Griff, self-made) begünstigt die Entwicklung von Essstörungen (vgl. Flaake 1998, 246)
       
    • Essen und Trinken in der Schule
      Trinken: Reduktion des Angebotes stark zuckerhältiger Limonaden, Erweiterung des bestehenden Angebotes um Wasserspender, Mineralwasser (wichtig: attraktive Preisgestaltung)
      Essen: Reduktion des Angebotes stark fett- und zuckerhältiger Snacks, Schaffung eines Angebotes von guten Alternativen (Obst, ...)
       
      Begründung: Obwohl objektiv ein reichhaltiges Angebot an Nahrungsmitteln zur Verfügung steht, ernähren sich immer mehr Kinder und Jugendliche falsch. Sie greifen zu den vorgefertigten, leicht verdaulichen, meist sehr fett- und kalorienhaltigen, industriell preiswert zubereiteten Produkten, die einen zu geringen Gehalt an verdauungsfördernden Faser- und Ballaststoffen haben. Diese Produkte sind somit wenig anregend für das Verdauungs- und Stoffwechselsystem. Ein Überschuss an Kalorien, bei gleichzeitiger Bewegungsarmut führt deshalb bei immer mehr Kindern zu Übergewicht.
       
      Neben den gesundheitlichen und psychosozialen Problemen, die Übergewicht mit sich bringt, ist Übergewicht auch ein Risikofaktor für die Entwicklung von subklinischen und klinischen Essstörungen.
      Entwicklung und Überprüfung von Qualitätskriterien für Schulbuffets, Preisregelung: Ziel - qualitativ hochwertige Nahrungsmittel zu günstigen Preisen.
       
    • Schaffung von Bewegungsmöglichkeiten
      Begründung siehe oben
       
    • Verstärkte Fortbildungsangebote (zentrale Fortbildungsangebote, schulinterne Lehrerfortbildung)
      In der Schule bestehen vielfältige, bisher noch wenig genutzte Möglichkeiten zur Gesundheitsförderung von Jugendlichen. Durch entsprechende Fortbildungsangebote sollen den PädagogInnen theoretische und methodisch-didaktische Kompetenzen vermittelt werden, die sie unterstützen, aus der Sicht der Präventionsforschung sinnvolle Maßnahmen zu setzen.
       
    • Gemeinsame Entwicklung von Handlungsmodellen bei Problemen
      Klärung der Zuständigkeit, Information über Unterstützungs- und Hilfsangebote, Verbesserung der professionellen Kooperation (innerhalb der Schule, Schule und Gesundheitssystem)
       
  2.  

     

  3. Personenbezogene Maßnahmen
    Im Zusammenhang mit Essstörungen liegen Präventionsziele in folgenden Bereichen (Borresen/Rosenvinge 1999):
       
    • Die Jugendlichen sollen eine größere Spannbreite von Emotionen entwickeln und den Kontakt zu den eigenen Gefühlen verbessern.
    • Die Jugendlichen sollen einen bewussten Umgang mit Gefühlen erlernen (Gefühle wahrnehmen und differenzieren) und entsprechende Bewältigungsstrategien entwickeln, anstatt Gefühle und Probleme mit Essen zu kompensieren.
    • Das Selbstwertgefühl und der Respekt gegenüber der eigenen Person soll gestärkt werden.
    • Die Jugendlichen sollen die Fähigkeit erlangen, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und gegenüber anderen vertreten zu können.
    • Es sollen positive Erfahrungen mit dem Körper vermittelt werden.
    • Das Selbstwertgefühl soll nicht ausschließlich von der Körperfigur, vom Gewicht und vom Aussehen abhängig gemacht werden (Entwicklung eines differenziertes Selbstkonzeptes).
    • Die Jugendlichen sollen eine kritische Einstellung gegenüber oberflächlichen und künstlichem Ideal bezüglich Körperproportionen erlangen.
    • Den Jugendlichen soll ein gesundes Ernährungs- und Bewegungsverhalten vermittelt werden.
    • Es soll Wissen über die biologischen und psychologischen Veränderungen während der Adoleszenz vermittelt werden.

    Wichtige Voraussetzung für präventive Arbeit ist neben der Förderung der pädagogischen Kompetenz die persönliche und aktive Auseinandersetzung mit dem eigenen Frau- oder Mann-Sein. Die Tatsache, als Erwachsene immer auch Modell zu sein, kann so reflektiert und vielleicht auch bewusster gestaltet werden.
     
    Um Schutzfaktoren wie Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl, Eigeninitiative, Konfliktfähigkeit, realistische Selbsteinschätzung ohne Mehraufwand zu stärken ist folgende Grundhaltung förderlich (vgl. Knoll 1998):

    • Freiräume zu schaffen, in denen nicht bewertet wird
    • Die Bemühungen und nicht die Resultate zu loben
    • (abwertende) Vergleiche, Ausgrenzungen und Bloßstellungen zu vermeiden
    • Solidarität unter SchülerInnen zu fördern
    • SchülerInnen zu helfen, Schwächen bei sich und anderen zu akzeptieren
    • Vielfältige Aktivitäten außerhalb der Rollenklischees bei Mädchen und Knaben zu fördern
    • Mädchen zu ermutigen, eigene Entscheidungen zu treffen, mit dem Risiko, andere zu enttäuschen
    • Mädchen mitzuteilen, dass sie nicht nur lieb, nett, gescheit und schön sein müssen, sondern dass wir ihr Temperament, ihre Fehler und ihren Protest ebenso mögen
    • Jungen Frauen weibliche Vorbilder zu vermitteln, die - trotz gesellschaftlichem Druck und Kritik - ihren eigenen Weg gegangen sind
       
  4.  

     

  5. Unterrichtsgestaltung
    Basierend auf dem Grundsatzerlass Gesundheitserziehung des BM f. Unterricht u. kulturelle Angelegenheiten (GZ 27.909/115....) erscheint es notwendig, im Sinne der Gesundheitsförderung, Unterrichtseinheiten zu folgenden Themen anzubieten:
       
    • kritische Auseinandersetzung mit Medien/Werbung und ihre Wirkung auf das Individuum
    • kritische Auseinandersetzung mit dem westlichen Schönheitsidealen und Schönheitsidealen anderer Kulturen
    • Veränderung der Frauen- und Männerrollen im Wandel der Zeit
    • biologische und psychologische Aspekte der Pubertät
    • Ablösung vom Elternhaus
    • Berufswahl, Ausbildung
    • Was der Körper braucht: über Nahrung, Essen und Diäten
    • Selbstwert und Körperwahrnehmung, Kommunikation, Konflikte, Genuss, Selbstbehauptung, Umgang mit schwierigen Situationen
  6.  

     

Literatur

Borresen, R., Rosenvinge J.H. (1999), Die Prävention von Essstörungen

im Jugendalter. In: Kolip, P (1998): Programme gegen Sucht. Internationale

Ansätze zur Suchtprävention im Jungendalter. Weinheim und München:

Juventa

Kolip, P (1998): Programme gegen Sucht. Internationale Ansätze zur Suchtprävention

im Jungendalter. Weinheim und München: Juventa

Knoll, S (1998), Essstörungen, Berner Lehrmittel- und Medienverlag

Flaake, K.(1998), Weibliche Adoleszenz. Zur Sozialisation junger Frauen. Frankfurt/Main,

New York: Campus

Rathner, G. Was sie über Essstörungen wissen sollten, Netzwerk Essstörungen,

Innsbruck

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
01.07.2001
Link
https://www.edugroup.at/bildung/detail/grundsatzempfehlungen-zur-praevention-von-ess-stoerungen.html?parentuid=108973&cHash=6564ff26319b0f2d2684c8f5ab3b814c
Kostenpflichtig
nein