Die Schule neu denken

Quelle: Reinhold Embacher, www.bilderpool.at

"Es ist besser, etwas Gutes probiert zu haben und zu scheitern als etwas Schlechtes perfekt zu beherrschen" Hartmut von Hentig, wesentlicher Mitentwickler der Laborschule Bielefeld.

Mitten im Lernen führt Sie heute ohne Umschweife mitten in einige Textpassagen hinein, mit denen Hartmut von Hentig 1993 im Buch "Die Schule neu denken" seine Ideen zur Reform der Schule und der Lehrer-Rolle vorstellte. Sie sind aus dem Kontext herausgelöst - sind jedoch so kernig, dass sie auch für sich genommen verständlich sind.

Wir müssen es mit den Lebensproblemen der Schüler aufnehmen, bevor wir ihre Lernprobleme lösen können.

Schwächen der "Unterrichtsschulen"

A: Sie bereitet nicht auf die Zukunft vor: Sie bedient sich noch immer des beschränkten Mittels der mündlichen und schriftlichen Belehrung und trägt dadurch unwillentlich zur Fortsetzung gesellschaftlicher Ungleichheit bei. Sie lässt die beiden wichtigsten Mittel der Erziehung ungenutzt: die Person des Lehrers und die gesellschaftliche Wirklichkeit außerhalb der Schule. Es geht nicht nur um mehr Belehrung über die Übel dieser Welt, sondern um die Einübung in das Verhalten und die Mittel der Überwindung – in Verantwortungsbereitschaft, Tatkraft, Zuversicht, neue vorausschauende, asketische, widerständige, opfervolle Lebensformen.Wie wenig Schul-Erkenntnis das Verhalten beeinflusst, kann ich am Zustand des Pausengeländes, der Flure, der Klos, der Cafeteria ablesen, wenn die Schule aus ist.

B: Sie ist unwirksam: Im Durchschnitt erhalten 20% der Schüler zwischen 11 und 17 Jahren 2 Stunden Nachhilfeunterricht pro Woche. Bei den sogenannten "schlechten" Schülern (1x sitzengeblieben) steigt der Anteil auf 50%. Oder: Wir brauchen 8 Jahre um schlecht Englisch zu lernen. Ein einziger Aufenthalt in den USA von einem halben Jahr blamiert alle unsere Lehrkünste.

C: Die unwirksame Schule ist auch unbeliebt: Die deutschen Schüler haben ein erheblich schlechteres Verhältnis zu ihrer Schule als die Schüler in Frankreich und in den USA. Ihre Abneigung steigert sich dramatisch mit Zunahme ihres Alters und ihrer Urteilskraft. Die Schularten mit dem höchsten Ansehen (als "tüchtigste") werden am wenigsten geliebt. Man kann einen Menschen nicht gegen seinen Willen erziehen und belehren.

D: Verschleiß von Energie: Die pädagogische Schule steht im wachsenden Gegensatz zur gesellschaftlichen Realität von Funktionalität, Anonymität, Kollektivität, Objektivität, Publizität, Rivalität etc. Die "realistische" Schule übernimmt die Benotung als Signum der Leistungsgesellschaft. Damit lügt, verbiegt und verdirbt sie, was sie zu erreichen behauptet – Leistung und Gerechtigkeit, letztere  verstanden als Lehrerhilfe zur Entwicklung der guten Schüleranlagen um subjektive Hochleistungen erbringen zu können.

E: Die Schule widerspricht den wissenschaftlichen Erkenntnissen, die wir vom Aufwachsen haben.

  • Verstehen ist für die Aneignung von Erkenntnis wichtiger als Wissen
  • Lernen wird durch Zwang nicht gefördert
  • Lernen gelingt besser im Zusammenhang der Dinge
  • Wo mit Interesse gelernt wird, ist Zeitverlust (d.h.: der Schüler verweilt länger bei der Sache als geplant) ein Zeitgewinn.
  • Vorbild und Mitmachen bewirken mehr als Belehrung.

Die Schule ist eine Einrichtung zur Kollektivierung des Lernens; sie macht aus Lernen Unterricht  "Lernen" aber und vollends "Sichbilden" und "Sichentwickeln" sind hochindividuelle Vorgänge. Man muss also zunächst dieses Gesetz der Pädagogik wiederherstellen und davon die Ausnahmen für die notwendigen Regeln, Ordnungen und Schemata machen. Dies gilt vor allem für den Durchgang der Kinder durch die Schule: Am Anfang muss die Schule für den Einzelnen da sein; die Gruppen müssen klein gehalten werden; die Zeiten bleiben disponibel, die Gegenstände werden nicht festgelegt, schon gar nicht in Fächer aufgeteilt. Am Ende der Schulzeit könnten die Einteilungen – von Personen, Zeiten, Gegenständen, Verfahren – rationalisiert werden in dem Maß, in dem die Schüler das Prinzip verstehen und bejahen. Das ist dann selber eine Leistung der Bildung und nicht mehr ihre Voraussetzung. Stattdessen gibt es Wortbelehrung statt learning by doing, einen kunterbunt vollgestopften Vormittag, Ãœberziehung jeder vernünftigen Aufmerksamkeitsspanne, das Außerachtlassen des Lernens von den Gleichaltrigen ebenso wie die strikte Durchsetzung der Altershomogenität, das Ignorieren der Pubertät in den Lehr- und Lernformen, das Ãœberwiegen der Entmutigung durch Kritik gegenüber der Ermutigung durch sachgemäßes Lob, das ewige Sitzen in Räumen mit schlechter Luft...

Der Sokratische Eid

Als Lehrer und Erzieher verpflichte ich mich,

  • die Eigenart eines jeden Kindes zu achten und gegen jedermann zu verteidigen;
  • für seine körperliche und seelische Unversehrtheit einzustehen;
  • auf seine Regungen zu achten, ihm zuzuhören, es ernst zu nehmen;
  • zu allem, was ich seiner Person antue seine Zustimmung zu suchen, wie ich es bei einem Erwachsenen täte;
  • das Gesetz seiner Entwicklung, soweit es erkennbar ist, zum Guten auszulegen und dem Kind zu ermöglichen, dieses Gesetz anzunehmen;
  • seine Anlagen herauszufordern und zu fördern;
  • es zu schützen, wo es schwach ist, ihm bei der Ãœberwindung von Angst und Schuld, Bosheit und Lüge, Zweifel und Misstrauen, Wehleidigkeit und Selbstsucht beizustehen, wo es das braucht;
  • seinen Willen nicht zu brechen – auch nicht, wo er unsinnig erscheint; ihm vielmehr dabei zu helfen, seinen Willen in die Herrschaft seiner Vernunft zu nehmen; es also den mündigen Verstandesgebrauch und die Kunst der Verständigung wie des Verstehens zu lehren;
  • es bereit zu machen, Verantwortung in der Gemeinschaft und für diese zu übernehmen;
  • es die Welt erfahren zu lassen, wie sie ist, ohne es der Welt zu unterwerfen, wie sie ist;
  • es erfahren zu lassen, was und wie das gemeinte gute Leben ist;
  • ihm eine Vision von der besseren Welt zu geben und die Zuversicht, dass sie erreichbar ist;
  • es Wahrhaftigkeit zu lehren, nicht die Wahrheit, denn "die ist bei Gott allein".

Damit verpflichte ich mich auch,

  • so gut ich kann, selber vorzuleben, wie man mit den Schwierigkeiten, den Anfechtungen und Chancen unserer Welt und mit den eigenen immer begrenzten Gaben, mit der eigenen immer gegebenen Schuld zurechtkommt;
  • nach meinen Kräften dafür zu sorgen, dass die kommende Generation eine Welt vorfindet, in der es sich zu leben lohnt und in der die ererbten Lasten und Schwierigkeiten nicht deren Ideen und Möglichkeiten erdrücken;
  • meine Ãœberzeugungen und Taten öffentlich zu begründen, mich der Kritik – insbesondere der Betroffenen und Sachkundigen – auszusetzen, meine Urteile gewissenhaft zu prüfen;
  • mich dann jedoch allen Personen und Verhältnissen zu widersetzen – dem Druck der öffentlichen Meinung, dem Verbandsinteresse, der Dienstvorschrift -, wenn diese meine hier bekundeten Vorsätze behindern.

Ich bekräftige diese Verpflichtung durch die Bereitschaft, mich jederzeit an den in ihr enthaltenen Maßstäben messen zu lassen.

aus: Hartmut von Hentig (1993): Die Schule neu denken.

"Schule ist Stätte der Personwerdung - Wissenszuwachs lässt sich dann gar nicht verhindern." Alfred Hinz, Begründer und langjähriger Leiter der Bodenseeschule St. Martin, Friedrichshafen, in ihrer heutigen Form

Dieser Beitrag wurde von MMag. Andreas Girzikovsky, Leiter der Schulpsychologie Oberösterreich, zusammengestellt.

Schulpsychologie - Bildungsberatung OÖ

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
10.10.2012
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/dem-lernen-auf-der-spur/detail/die-schule-neu-denken.html?cHash=3bc1fdcdd220154aab27c1484a92c23b
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