Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn
Schon die Auflagenzahl zeigt, dass hier "der richtige Ton" getroffen wurde... ein Buch mit Kultstatus.
Buchtitel: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn - 11. Auflage
AutorInnen: Hüther G
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht e-book
Erschienen: 2012
Zum Inhalt
Hüther ist Professor für Neurobiologie und leitet die Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen und des Instituts für Public Health der Universität Mannheim/Heidelberg. Besonders interessiert ihn die Beeinflussbarkeit der kindlichen Hirnentwicklung ,die Plastizität des menschlichen Gehirns, durch Einflussfaktoren, die durch seelische und beziehungsmäßige Umstände und Maßnahmen gegeben sind..
Hüther bleibt im Aufbau des Buches seiner Titelmetapher treu: "Bedienungsanleitung" impliziert ja die Handhabung eines Gerätes. Und daher gibt es Hinweise auf die Entfernung von Verpackungsmaterial und Schutzvorrichtungen, Hinweise auf bereits erfolgte Installationsmaßnahmen. Es gibt optimal gelungene Installationen und nur mangelhaft gelungene Installationen, sowie die Notwendigkeit einer Korrektur von Installationsdefiziten (diese betreffen Ungleichgewichte zwischen Gefühl und Verstand, Abhängigkeit und Autonomie, Offenheit und Abgrenzung). Unterhaltungs- und Wartungsmaßnahmen (beschrieben werden die Stufenleitern der Wahrnehmung, der Empfindung, der Erkenntnis und des Bewusstseins) und praktische Hinweise auf das Verhalten bei Störfällen, es gibt Bedienungsfehler (es wird hingewiesen auf den Jesuitenpater Gracian, der konstatierte: Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit, Bequemlichkeit und Oberflächlichkeit, Einseitigkeit und Engstirnigkeit, Rücksichtslosigkeit und – immer wieder – Unachtsamkeit verhindern die volle Nutzung des Gehirns), Störungsmeldungen und Schadensbegrenzung, Reklamationen und Haftung , Hinweise zum Aufbau und Einsatzmöglichkeiten. Im Detail geht es aber darum, wie das Gehirn seine wunderbaren Fähigkeiten entfaltet hat und wie man ihm gerecht wird. Verwendet wird dabei die Computermetapher, denn die Rede ist von programmgesteuerten Konstruktionen in Gehirnen von Würmern, Schnecken und Insekten, von initial programmierbaren Konstruktionen in Gehirnen von Vögeln, Beutel- und Säugetieren, zeitlebens programmierbaren Gehirnen bzw. programmöffnenden Konstruktionen: Hier geht es um das menschliche Gehirn und die Gefahr früher einseitiger neuronaler Bahnungen, Festlegungen.
Wer das Buch von der eben dargestellten Außenfläche betrachtet, wird erwarten, dass hier ein Naturwissenschafter seine Argumente für einen Materialismus, Naturalismus ausbreitet und sein Credo des "nichts als.." verkündet, der Reduktion des Psychischen, Mentalen auf die Funktionen seines Substrates.
Was dem Leser aber begegnet, ist erstaunlich: In einer einfachen, aber bildreichen und tiefgreifenden Sprache vermittelt Hüther den Eindruck, man säße mit ihm an einem Tisch und führe ein ruhiges, nachdenkliches Gespräch über Evolution, Genealogie der Moral, Gesellschaftskritik, Pädagogik, Mythologie und Transzendenz. Die "Leichtigkeit", den Gedankengängen Hüthers zu folgen, darf aber nicht die Tatsache kaschieren, dass die Implikationen der neurobiologischen Erkenntnisse schwerwiegend sind. Drei Beispiele:
Hüther plädiert für eine Kultur des Fehlermachens: Jemand, der keine Fehler bei der Benutzung seines Gehirns machte, wäre auch nicht mehr in der Lage, sich zu ändern. Er gliche einem für die Erledigung bestimmter Aufgaben optimal
programmierten, jedoch zu jeder Weiterentwicklung unfähigen Automaten. Aber auch jeder, dem es gelingt, alle Betroffenheit über seine eigenen Fehler zu unterdrücken und keinerlei Zweifel an der Richtigkeit seines bisherigen Denkens
und Handelns aufkommen zu lassen, beraubt sich auf diese Weise der Möglichkeit, aus seinen eigenen Fehlern lernen zu können. ( Seite 129).
Auf Seite 66 spricht Hüther von den fatalen Folgen der Erfahrungskanalisierung:
Die damit einhergehende Einschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des Gehirns dieser Nachkommen begünstigte die Bahnung ganz bestimmter, besonders intensiv benutzter Verschaltungen auf Kosten anderer, weniger häufig aktivierter Nervenzellverbindungen. Je besser das gelang, um so genauer wurde die nachwachsende Generation für die effiziente Durchsetzung bestimmter Ziele (der Familie, der Sippe, der Schicht, der Gesellschaft, der kulturellen Gemeinschaft) programmiert.
Auf Seite 137 kommt Hüther zu einer Formulierung, die durchaus kompatibel ist mit psychotherapeutischen, tiefenpsychologisch en Theorien:
Fühlen und Handeln ihrer Mitglieder bestimmen. Diese inneren Strukturen sind eigentlich nicht allzu schwer zu durchschauen: Zuunterst und tief verankert liegen die während der Kindheit vorgefundenen und übernommenen Haltungen und Überzeugungen mit all den mehr oder weniger deutlichen Spuren im Denken und Fühlen, die Elternhaus und Schule zurückgelassen haben, mit den von Altersgenossen, von Erwachsenen und den Medien übernommenen Vorstellungen davon, worauf es im Leben ankommt. Auf dieses Fundament werden alle weiteren Erfahrungen gepackt, die ein heranwachsender Mensch in der Auseinandersetzung mit der ihm übergebenen Welt machen kann, während der Ausbildung und im Berufsleben. Eingebaut wird all das, was brauchbar ist und sich bewährt, also das, was ihm hilft, Sicherheit und innere Stabilität zu finden.
Was die Unmittelbarkeit der Kommunikation von Hüther zu seinem Leser anbelangt, würde der Rezensent Hüther neben Fritz Riemann mit seinen" Urformen der Angst" stellen. Es wird nicht falsch sein, Hüthers Buch bald einen ähnlichen Kultstatus zuzuschreiben!