Der Ahnen-Faktor. Das emotionale Familienerbe als Auftrag und Chance

Die Situation der Ahnen-Einbindung bringt hingegen eine entlastende Perspektive: Nun ruht die Hoffnung der Sippe auf dem Problemträger, er ist nicht mehr der Problemgenerator, sondern der Problem-Indizierte.


Autor: Teuschel A
Verlag: Stuttgart: Schattauer

Erschienen: 2016

Zum Inhalt

Der Autor, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, postuliert zunächst, dass hinter manchem Rätselhaften der irritierende Einfluss der Ahnen stecken könnte. Der Autor fügt dem Menschen somit eine weitere Enttäuschung zu: Nach der kosmischen (Erde nicht Mittelpunkt des Weltalls), biologischen (Mensch stammt von affenähnlichen Wesen ab), psychologischen (Mensch nicht Herr im eigenen Bewusstseinshaus), soziologischen ( wir sind viel mehr außen geleitet als wir annehmen) kommt nun die transgenerationale Enttäuschung hinzu (in uns sind nicht nur aus der eigenen Biografie direkt ableitbare Gefühle, sondern auch die Nöte, Ängste, Konflikte von früheren Vorläufern in der Stammbaumreihe). Die Argumentation verläuft so, dass zunächst anthropologische,  ethnologische Belege für die Ahnenverehrung dargeboten werden (die Etrusker und die Melanesier); dann werden esoterische Gesichtspunkte eingebracht: Das Tarot-System wobei den 78 Bildkarten hauptsächlich eine symbolische Wirkung zugemessen wird bzw. eine illustrative und assoziationsanregende; sowie der Ahnen-Faktor in der Astrologie und im Schamanismus. Dann werden psychologische "Ahnen-Konzepte" bei Sigmund Freud ( z.B. Tötung des Vaters durch die Urhorde) und bei C.G. Jung ( Archetypenlehre) als Untermauerung der Ahnenfaktor-Hypothese herangezogen und es wird eine relativ junge Ansicht aufgegriffen: Negative Inhalte in der Ahnenreihe werden in einer "Gruft" im Unbewussten eingeschlossen und kommen manchmal an die Oberfläche, wo sie eine Irritation bewirken. Erwähnt wird auch das Konzept der unsichtbaren Bindungen. Interessant ist die Betrachtung von Triaden, auch über Generationen hinweg, darunter versteht der Autor spannungsgeladene Beziehungen zwischen drei Personen, die nicht in einer gemeinsamen Zeitebene liegen müssen. Ausführlich geht der Autor auf die Frage nach den Transportmitteln ein, die die Ahnenbotschaften weiter tragen, und sieht diese in der Epigenetik ( der Mensch ist nicht nur genetisch "präformiert", sondern offen für Umwelteinflüsse, er reagiert mit einer situativ bedingten Auswahl seiner Möglichkeiten). Auch Ernährungsbedingungen können die Rezeptivität gegenüber transgenerationaler Themen begünstigen.

Am Schluss des zweiten Kapitels ist der Autor überzeugt, dass die Einbeziehung der Ahnen kein Hokuspokus ist, sondern eine Realität, die es stärker als bisher zur berücksichtigen gilt.

Rund 70 Seiten lang breitet der Autor das emotionale Erbe aus: Possessivität,  Tabus, Schmerz, Versagen usw., bringt viele Fallbeispiele und plädiert abschließend dafür, den Ahnenfaktor als Auftrag und Chance zu sehen.

Es gibt eine Reihe von kleinen kritischen Anmerkungen, einige seien angeführt: Auf Seite 95 wird behauptet, dass eine nur symbolische Wirkung des Ahnenfaktors seiner Bedeutung keinen Abbruch tue,  es sei nur dann eine "Scheinlösung", wenn man glaubt, die einzig-wahre Neurosen-Deutung zu haben (?)

Auf Seite 95 wird ein unpassendes Bild der Verhaltenstherapie gezeichnet als eine auf das Hier und Jetzt ausgerichtete Schnellbehandlung. Möglicherweise liegt hier eine Verwechslung mit Kurztherapien vor, jedenfalls sollten Plananalyse und Schemaansatz neben anderen Entwicklungen nicht ignoriert werden. Auf der Folgeseite wird der Wunsch ausgesprochen, mit dem Einzelnen in der Familientherapie die transgenerationalen Themen erarbeiten zu können. Die familientherapeutische Arbeit mit Einzelnen ist schon Realität.

Auf Seite 153 wird auf die Bedeutung der Längsschnittbetrachtung gegenüber einer Beschränkung auf den Querschnitt hingewiesen. Die Problemgenese und ausführliche Anamnese existiert, auch unter Einbindung früherer Generationen.

Diskutabel ist die Interpretation z.B. der Fallgeschichte mit Hugo, der Disneyland und dort ein Gespensterhaus besucht und einen Panikanfall erleidet, in dem er sich plötzlich als KZ-Häftling vor der Hinrichtung erlebt. Die spätere Aufarbeitung in der Therapie gelingt erst, als Hugo von der Tötung einer  geistesbehinderten Großtante durch die Nationalsozialisten erfährt. Das wurde totgeschwiegen, bis Hugo seine Mutter nach der Nazi-Vergangenheit befragte. Hugo fühlt sich nun verbunden mit seinen Ahnen und versteht seine Unruhe-Symptome nun ganz neu.

Eine Deutung, die des Ahnenfaktors nicht bedarf, wäre: Hugo erlebt Panik (ev. auf Grundlage einer ebenfalls noch zu analysierenden Klaustrophobie) im symbolischen "Kleid" einer Nazitortur. Diese Einkleidung ist symbolisch und muss nicht konkretistisch verstanden werden. Das Sistieren der Therapie vor dem "Ahnenbewusstsein" weist darauf hin, dass der eigentliche Problemkern noch nicht erreicht ist.

Die Situation der Ahnen-Einbindung bringt hingegen eine entlastende Perspektive: Nun ruht die Hoffnung der Sippe auf dem Problemträger, er ist nicht mehr der Problemgenerator, sondern der Problem-Indizierte. Der Rezensent würde das den "Flash-Gordon-Effekt" nennen: Zunächst ist der Proponent Opfer der Umstände, bis er den Auftrag spürt, das System zu erneuern, und die Hoffnung der Vielen wird..

Das Buch ist lesenswert, daran ändern die kritischen Anmerkungen nichts;  es bringt eine Idee ein, die therapeutisch als Anreiz dienen kann, über den gegenwärtigen Problem Tellerrand hinaus zu blicken. Natürlich gilt es hier besonders, eine Reifizierung zu vermeiden. Jedenfalls hat der Rezensent Therapien (d.h. sowohl Therapiefälle als auch Therapiemethoden)  im Auge, bei denen der Denkansatz des Autors und sein "Katalog" des emotionalen Erbes Frucht bringen kann!

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Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
18.02.2016
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/der-ahnen-faktor-das-emotionale-familienerbe-als-auftrag-und-chance.html
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