Digitale Hysterie. Warum Computer unsere Kinder weder dumm noch krank machen.
Milzner hat also für jede digitale Sorge ein originelles digitales Trostargument parat. Aber er übersieht nicht die Gefahren.
Autor: Milzner G
Verlag: Weinheim:Beltz
Erschienen: 2016
Zum Inhalt
Der Autor ist Psychologe und Psychotherapeut und hat sich mit dem Einfluss der digitalen Medien auf die Menschen befasst. Seine Botschaft ist, durch sachgerechte Information die Angst vor dem Computer und seinen Auswirkungen abzubauen und den Mut zu haben, hinter manchem Computerproblem das eigentliche Problem, die Beziehung, zu sehen.
Der Autor doziert nicht, sondern bindet den Leser in ein Gespräch ein, dessen Umfang man erahnt, wenn man die Themen und Hauptaussagen der 10 Kapitel betrachtet: Der Umgang mit der Digitalisierung der Welt bewirkt ein Dilemma der Eltern und Erzieher, die die digitale Welt ablehnen; die neuen Intelligenzanforderungen der digitalen Welt verändern die Intelligenz, setzen andere Schwerpunkte, aber machen nicht dumm. Spiele bringen immer Lerngewinn, man muss allerdings zwischen den verschiedenen Spielarten und ihren Herausforderungen unterscheiden. Menschen mit einem reichen Beziehungsleben verfallen nicht der Sucht, sie entwickeln Gewohnheiten, Leidenschaften, aber keine Abhängigkeit. Gewalt entsteht nicht durch Games, sondern wird eingebracht. Für kreative Menschen ist der Computer ein Instrument, kein Hindernis. Es kann zu einer virtuellen Scheinbefriedigung, zu einer digitalen Verwahrlosung kommen. Vernetzungen mittels Kommunikationsplattformen können das Glücksgefühl nicht steigern; es bedarf einer Schulung der Selbststeuerung, einer Anreicherung der virtuellen Erfahrung durch sinnliche Erlebnisse und einer Anteilnahme statt abwehrenden Sorge.
Milzner hat also für jede digitale Sorge ein originelles digitales Trostargument parat. Aber er übersieht nicht die Gefahren, z.B. der virtuellen Scheinbefriedigung. Hierzu meint er auf Seite 181: „Mediale Möglichkeiten bieten heute die Chance zur Scheinbefriedigung in reichem Maß. Scheinbefriedigungen verlocken damit. Ihnen Zeit zu widmen, Lebenszeit..Aber das tut der Fernseher auch und das tun unzählige andere Dinge den ganzen Tag lang. Der Unterschied in der Computerwelt ist der, dass man in ihr handeln – und gleichzeitig an seinem Leben vorbeileben kann.“
Milzner führt eigene Beobachtungen an, z.B. dass gewalttätige Jugendliche eher Realkontakte suchen als virtuelle (Seite 135f). Auf Seite 138f plädiert er für die Abreaktion von angestauten Aggressionen und sieht in Computergewaltspielen eine vielfach eingesetzte therapeutische Möglichkeit für die Aggressionsabfuhr. Diese Methode ist allerdings nicht unproblematisch: Es wird ein negatives Muster eingeübt (neurologisch: gebahnt), die Chancen zur Nutzung der Aggressionsenergie (Sublimation) bleiben unerwähnt.
Auf Seite 200 spielt der Autor die mediale Gefahr einer Entindividualisierung durch den Anpassungsdruck sozialer Netzwerke als paranoide Idee herunter. Nicht ganz berechtigt: Der Computer hat die Gruppenbildung und den Lobbyismus potenziert. In sozialen Netzwerken findet eine dauernde Abgleichung statt. Es wäre nicht uninteressant, die asiatische Kultur in Hinblick auf die kollektive Intelligenz und Lebensform zu studieren.
Recht eigenwillig fällt die Argumentation gegen die Bildschirmbegrenzung aus (Seite 211f): Die Limitierung der Beschäftigung mit dem Computer wird verglichen mit dem Blick auf das Papier beim Lesen: Wenn man dieses begrenze, schalte man auch andere Papierbeschäftigungen aus: Zeichnen, eine Geschichte schreiben.. die Analogie wird allerdings nicht ausgeführt. Milzner sieht eine Chance für die Heranwachsenden und ihrem Pendeln zwischen Kindsein und Erwachsensein in einer Bewusstseinshaltung des Übergangs, in einer beidseitigen Anerkennung kindlicher Begeisterung und erwachsener Kritik. Es muss zu einem Ausgleich zwischen Lustorientierung und sachgerechter Beurteilung (entspricht in etwa dem Freudschen Begriff „Lustprinzip“ bzw. „Realitätsprinzip“) kommen.
Auf Seite 232f tritt der Autor für sinnliche Erfahrungen ein, eine Lücke in der digitalen Welt. Auch das Nach-Basteln von Computerspielen bzw. –figuren kann eine konkrete Basis für die Abstraktionsleistung der Begriffe liefern. Auf Seite 241 votet der Autor so sehr für ein Ernstnehmen und Mitvollziehen des Kulturwandels durch die digitale Revolution, dass er gleichzeitig die Beschäftigung mit der Vergangenheit (in Form von vermehrtem Latein- und Griechischunterricht als hilflosen Versuch werten muss, die alte Lebensform nochmals erstehen zu lassen, wo sich das Neue bereits am Horizont ankündigt.
Insgesamt liefert der Autor viele, weniger aus der Fachdiskussion und mehr aus der eigenen klinischen Erfahrung gewonnene Gegenargumente gegen die „digitale Hysterie“. Die Problemseite wird dabei weniger analysiert. Dadurch erscheinen die Sorgen der Eltern als „altvordern“. Die Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Neurowissenschaften bezüglich den Auswirkungen der exzessiven Verweildauer in der digitalen Welt wäre eine wertvolle Ergänzung.
Nach der Lektüre ist man optimistischer, was die sinnvolle Beschäftigung mit der digitalen Welt anbelangt. Es ist eben wie überall der richtige Gebrauch, auf den es ankommt!