Lass mich - mir fehlt nichts! Ins Gespräch kommen mit psychisch Kranken.

Der Autor, klinischer Psychologe, erläutert das Problem der Krankheitsverleugnung und die Wirkung der Krankheitseinsicht, die überwiegend positiv gesehen wird.


Autor: Amador X
Verlag: Stuttgart: G.Thieme

Erschienen: 2015

Zum Inhalt

Zunächst der Aufbau des Buches. Der Autor, klinischer Psychologe, erläutert das Problem der Krankheitsverleugnung und die Wirkung der Krankheitseinsicht, die überwiegend positiv gesehen wird. Die Krankheitsleugnung (Anosognosie), die mangelnde Einsicht in die eigene Erkrankung, ist nach vielen Studien weniger einer persönlichen Haltung  zuzuschreiben, sondern einer krankheitsbedingten Hirnfunktionsstörung. Der Autor macht Mut: Charaktereigenschaften sind schwerer zu verändern als Hirnfunktionsstörungen. Für letztere gibt es viele Regenerations- bzw. Kompensationsansätze, speziell die kognitive Remediation (Seite 80). Der Autor bekennt sich dazu, dass ihm die Ätiologie weniger wichtig ist als die Frage nach dem Umgang mit einem hirngeschädigten Menschen. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Autor bereits 1991 mit einem Kollegen den Begiff "broken brain" kreiert hat, um eben auf die neurobiologischen Defizite hinzuweisen.
Im folgenden Kapitel stellt Amador sein LEAP-Konzept vor: Das Akronym steht für Lauschen (reflexives Zuhören), Empathie, Anerkennen der Meinungsverschiedenheit, Partnerschaft. Beim reflexiven Zuhören geht es darum, kommentarlos, wertfrei alle Informationen aufzunehmen, die der kranke Mensch liefert. Man könnte sagen, Amador empfiehlt hier eine phänomenologische Zugangsweise.
Empathie ist das Bemühen bzw. die Fähigkeit, sich in die Gefühle des Mitmenschen hinein zu versetzen, wobei es insbesondere die Gefühle sind, die durch die Krankheit bzw. Krankheitsleugnung beim Betroffenen selbst und bei den Mitmenschen hervorgerufen werden. Hier könnte man sagen, dass Amador eine spezielle Mentalisierungsleistung meint.
Akzeptanz der Meinungsverschiedenheit zielt auf das Gemeinsame, aber auch Unterschiedliche zwischen den Dialogpartnern.
Schließlich gibt es noch die Partnerschaft, die zum Ausdruck bringt, dass man sich um einen gemeinsamen Weg zu einem gemeinsamen Ziel bemüht.

Das nächste Kapitel  befasst sich mit spezifischen Fragen, z.B. mit Problemen der schlechten Adhärenz (Übereinstimmung des Gesundheitsverhaltens mit den therapeutischen Empfehlungen), sowie mit dem Problem einer Zwangseinweisung bzw. Zwangsbehandlung.
Das abschließende Kapitel bringt kurze Notizen zur Theorie und Forschung von LEAP, zur Psychotherapie bei Psychosen (wofür LEAP neue Zugangsmöglichkeiten verspricht), zur Gewalt im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen und zu verschiedenen Studien mit neurobiologischen Tests und mit bildgebenden Verfahren.

Der Autor erweckt beim Rezensenten verschiedene Gefühlsreaktionen. Berührend sind die immer wieder eingestreuten Schilderungen der Begegnungen mit seinem älteren, an Schizophrenie erkrankten Bruder. Ihm dankt er für das Beispiel, das er vielen Menschen durch seinen Umgang mit der Krankheit gegeben hat.

Eine gewisse Bewunderung erntet der Autor für sein Geschick, sein Konzept in kurzer Zeit vor "Tausenden von Menschen in den USA und weltweit" , Seite 93) auszubreiten. Und für die erfolgreiche Strategie, vorhandenes Gedankengut in eine neue, moderne Verpackung zu geben. Denn man hätte ohne Probleme statt der Bezeichnung LEAP auch wählen können: Kommunikation mit Schizophrenen. Eine adressatenspezifische Modifikation personzentrierter Grundhaltungen. Bei Rogers finden sich Zuhören, Empathie, Echtheit, Wertschätzung u. v. a. m.  Aber "LEAP" ist geschmeidiger und spricht mehr an. Amador ist sich der Anleihen bewusst: Er weist auf Zoroaster, Konfuzius, Jesus und andere hin, die das quid pro quo des Zuhörens und anderer Zuwendungen schon früh lehrten (Seite 101f). Er vergleicht seine Position mit der Aussage des Folksängers Woody Guthrie:"Es gibt keine neuen Melodien, sie sind alle schon aufgeschrieben!"(Seite 274). LEAP baut auf der Klientenzentrierten Methode auf (allerdings hat nicht so sehr Rogers, wie Amador meint, sondern sein Schüler, der Pädagoge Thomas Gordon, das "aktive Zuhören" propagiert und als methodische Hilfe ausgebaut), weiter auf der Kognitiven Therapie (deren Verdienst ist weniger die von Amador hervor gehobene Planung und Kosten-Nutzenanalyse, sondern das Aufzeigen und Bearbeiten dysfunktionaler Gedanken) und schließlich auf der sogenannten Motivationsverstärkungstherapie (die besonders auf die Ambivalenz gegenüber Veränderung fokussiert -was allerdings bei allen Therapiemethoden ein Thema sein dürfte).

Einige Anmerkungen seien dem Rezensenten gestattet:
1) Die Eindimensionalität der Wirkung von empfohlenen Handlungen ist zu hinterfragen. Amador meint:" ..je länger Sie Ihre Meinung hinauszögern können, desto mehr wird Ihr Gegenüber feststellen, dass Sie ihn respektieren und desto mehr wird er sich verpflichtet fühlen, Ihre Meinung zu respektieren" (Seite 148). Ist das eine zwingende Konsequenz? Oder könnte der Patient das Gefühl entwickeln, dass der Therapeut sich entzieht, heraus windet, ihn nicht ernst nimmt, seine Intelligenz unterschätzt? Und könnte der Patient auch mit der Verzögerungstaktik (Modelleffekt) antworten? Amador unterstreicht sein Ernstnehmen des Patienten, indem er verspricht (und einhält), auch die persönliche Frage zu beantworten, wenn ein guter Zeitpunkt dafür gegeben ist.
2) Amador schlägt vor, viele Fragen zu stellen, wie ein Journalist ein Interview zu führen. Das klingt angenehm, Therapeuten haben ja viele Fragen. Die Frage beim Fragen ist allerdings, ob diese Fragen das Thema des Patienten aufgreifen - oder das des Therapeuten. Hier sollte bei einer künftigen Auflage noch mehr auf offene Fragen hingewiesen werden bzw. eine Anleitung über das richtige Fragen erfolgen.
3) Amador hat gute Erfahrungen damit, für negative Gefühle, die seine - vom Patienten abweichenden - Meinungen hervorrufen  können, präventiv Abbitte zu leisten. Diese Entschuldigung wirkt anfangs vielleicht sympathisch oder interessant, bei häufigerer Anwendung aber stereotyp und manieriert. Außerdem ist es eine Vorannahme zu glauben, dass der Patient mit negativen Gefühlen reagiert, besser wäre zumindest ab und zu eine Unsicherheitsformulierung:"Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ankommt!" Das wäre ein Pendant zum  vom Autor eingeführten Eingeständnis: "Möglicherweise irre ich mich!"
4) Die von Amador vorgeschlagenen, fast rituellen Formulierungen geben eine verführerische Sicherheit, wie das Gespräch ablaufen wird. Verführerisch deswegen, weil man versucht ist, zu erproben, ob diese Zauberschlüssel tatsächlich die Tür zum Patienten aufsperren. Der kommunikationstechnische Garantie-Effekt macht neugierig."Wenn Sie einmal die Grundprinzipien erlernt haben, ist es eindeutig, dass es weit besser funktioniert als alles, was Sie bisher versucht haben." (Seite 96)
5) Derzeit ist der Trend beobachtbar, eklektisch-pragmatisch in die Tools-Kiste zu greifen, das Zusammengetragene mit einem neuen Namen zu versehen, eine spezifische Wirkung auf ein ganz bestimmtes Indikationsfeld zu behaupten und schließlich durch breit angelegte Evaluationen zu bestätigen.
6) Wichtig für die Attraktivität des "neuen Verfahrens" ist dann eine einfache Bedienung. "..und ich kam zur Überzeugung, dass Sie keinen Doktortitel oder einen ähnlichen Abschluss brauchen, um die Kernelemente dieser Therapie wirkungsvoll anzuwenden!"(Seite 93). Der Rezensent schlägt vor, trotz der einfachen "Bedienung" einen kleinen Beitrag in der nächsten Auflage oder im nächst erscheinenden Buch einzufügen mit dem Titel: "Was, wenn es nicht klappt?", oder weniger salopp:

"Was tun, wenn der Patient nicht so reagiert, wie es LEAP vorsieht?"

7) Was dann noch folgt, ist die Anwendungsgeneralisierung der ursprünglich spezifisch indizierten Methode (auch Amador macht hier keine Ausnahme, von ihm erscheint demnächst ein Buch  über die Lösung von Streitgesprächen mit LEAP). Amador hat sich mit dem möglichen "Vorwurf" auseinander zu setzen (den er übrigens mit der Psychoanalyse Freuds teilt), von der Pathologie ausgehend den Normalbereich zu beschreiben. Hier wären doch Hinweise zu Unterschieden zwischen den   Adressaten wertvoll.

Wie immer man die Anmerkungen berücksichtigen möchte - jedenfalls hat der Autor eine Brücke geschlagen und ein Zugehen auf den schizophrenen Angehörigen bzw. Mitmenschen in Aussicht gestellt. Diese Ermutigung und die bodennahen praktischen Empfehlungen haben offensichtlich das große Echo des LEAP-Ansatzes hervor gerufen! Viele Gesprächsausschnitte und die Fallbeispiele machen das Konzept lebendig!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
30.10.2015
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/lass-mich-mir-fehlt-nichts-ins-gespraech-kommen-mit-psychisch-kranken.html
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