Positive Psychotherapie
Die Positive Psychotherapie hat aber auch eine gesellschaftlichen Mission: als das therapeutische Echo auf die immer intensivere Begegnung der Kulturen...
Buchtitel: Positive Psychotherapie
Reihe: Wege der Psychotherapie
AutorInnen: Peseschkian H u Remmers A
Verlag: E.Reinhardt
Erschienen: 2013
Zum Inhalt
Nossrat Peseschkian, der Vater des einen Autors und Begründer der Positiven Psychotherapie, verbrachte Kindheit und Jugend im Iran, studierte anschließend in Deutschland und ließ sich hier auch in eigener Facharzt-Praxis nieder. Diese Erfahrung in zwei völlig verschiedenen Kulturen bewog ihn zum transkulturellen Ansatz. Er meint dazu: "Dabei verstehen wir Psychotherapie nicht nur als festgelegte Methode, die auf bestimmte Symptombilder angewandt wird, sondern zugleich als Reaktion auf bestehende gesellschaftliche, transkulturelle und soziale Bedingungen" (Seite 13). Beim ersten Weltkongress der Psychotherapie in Wien konnte der Rezensent Nossrat Peseschkian und seine positive, charismatische Ausstrahlung persönlich kennenlernen. (Übrigens hat Peseschkian - soweit der Rezensent ihn einige Male traf - trotz jahrzehntelangen Wohnens in Deutschland nie seinen Akzent völlig abgelegt, möglicherweise eine kleine Hommage an sein Herkunftsland). Er bezeichnete sich selbst als preußischen Orientalen mit einem rational-westlichen und einem emotional-orientalischen Anteil. Diese Polarität konnte der Rezensent auch an der PP feststellen: Einerseits gibt es viel analoges Denken, Märchenhaft-Irrationales, Gemüthaftes. Andererseits gibt es viele genau festgelegte, quantifizierte Anweisungen: vier Bereiche der Gesundheit, vier Wege der Konfliktverarbeitung, vier Vorbilddimensionen, drei Interaktionsstadien und ein 5-Stufen-Modell der Therapie.
Die Bezeichnung "Positive Psychotherapie" ( im Folgenden abgekürzt PP) geht von "positiv" als "gegeben", "tatsächlich", "vorhanden" aus. Das kann man nun so verstehen, dass sich die PP dafür engagiert, neben dem gegebenen Leid bzw. Problem auch die gegebenen (aber noch aufzuspürenden) Fähigkeiten und Ressourcen zu berücksichtigen. Die Weiterführung des Gedankens "Der positive Ansatz entspringt einem positiven Menschenbild: Der Mensch ist seinem Wesen nach gut." (Seite 40) geht am naturalistischen Fehlschluss (die Ableitung von Werturteilen aus Beschreibungen) knapp, aber doch vorbei: Es wird nicht von einem Sein auf ein Sollen geschlossen, sondern das Erstrebenswerte ist schon im Sein, biologisch gegeben und durch Erziehung zu entwickeln.
Die Autoren des vorliegenden Buches treffen an mehreren Stellen definitorische Aussagen über die PP, die eine unterschiedliche Wertung ausdrücken. Drei Beispiele dafür: "Die Differenzierungsanalyse (Anm. des Rezensenten: Vorläuferbezeichnung für das Verfahren der PP ) versteht sich nicht als eine Methode neben anderen. Vielmehr bietet sie ein Instrumentarium, nach dem abgetastet werden kann, welche methodischen Ansätze in welchem besonderen Fall angezeigt sind, und wie diese Methoden einander abwechseln können. Die Differenzierungsanalyse ist also eine Metatheorie der Psychotherapien". Diese Einschätzung der Positiven Psychotherapie trifft Nossrat Peseschkian selbst. (Seite 13)
Auf Seite 37 wird der Anspruch höher geschraubt: Der multikulturelle Zugang zur Leidensproblematik wird als "vierte Kraft" neben Psychoanalyse, Behaviorismus und humanistischer Psychologie gewertet. (H. Nossrat weist selbst auf die Ethnopsychoanalyse hin - Seite 69 und auf "transkulturelle" Entwicklungen in Beratung und Psychotherapie).
Demgegenüber scheint die Beurteilung auf Seite 146 bescheidener: Es geht der PP um eine Synthese von tiefenpsychologischer Konfliktdynamik und verhaltenstherapeutischer Methodik.
Die positive Sichtweise der PP betrachtet Probleme als Fähigkeiten, z.B. die Depression als die Fähigkeit, mit tiefster Emotionalität auf Konflikte zu reagieren (ebd.). Damit wird nun sicherlich kein Schönreden von Pathologien gemeint. Es gilt vielmehr, Einseitigkeiten aufzuheben, die Balance zwischen biologisch-körperlichen, rational-intellektuellen, sozio-emotionalen und geistig-spirituellen Fähigkeiten finden. (Der Gedanke der Balance erinnert an das Homoöstase-Prinzip bei Freud und den Ganzheitlichkeitsaspekt bei Jung).
Manchmal gebraucht die PP eine eigenwillige Begrifflichkeit: So z.B. werden (auf Seite 47ff) die vier Medien der Erkenntnisfähigkeiten, nämlich die Mittel der Sinne, des Verstandes, der Tradition und der Intuition angeführt. "Tradition" wird als Übergabe von Beziehungsmustern interpretiert. Wäre eine andere Bezeichnung glücklicher? Natürlich sind die inneren Beziehungsrepräsentanzen wichtig. Geht es aber wirklich so stark um das Nachahmungslernen, Modell-Lernen? Betont das Wort "Tradition" nicht sehr die Weitergabe der Eltern an die Kinder, anstatt das interaktive Geschehen zwischen Kind und Eltern zu berücksichtigen?
Ein anderes Beispiel: Bei den sogenannten Aktualfähigkeiten des Menschen werden u. a. Liebe, Geduld, Vertrauen etc. als Liebesfähigkeiten den sog. Erkenntnisfähigkeiten wie Pünktlichkeit, Ordnung, Gehorsam etc. gegenüber gestellt. Warum die Bezeichnung "Erkenntnisfähigkeiten": Ist die Übernahme von sozialen Normen ein hauptsächlicher Erkenntnisakt?
Beim Differenzierungsanalytischen Inventar werden die Liebesfähigkeiten und Erkenntnisfähigkeiten des Patienten und sodann einer wichtigen Bezugsperson ermittelt (S 56ff) und miteinander verglichen. Ergänzbar wäre eine Gegenüberstellung von Selbstbild und Fremdbild, von Selbstbild und Idealbild (wie dies z.B. der ehrwürdige Gießentest macht).
Es gibt noch etlichen weiteren Diskussionsstoff. Aber: Diese Diskussion ist Zeichen einer lebendigen Auseinandersetzung! Die „Differenzen“ sind befruchtend, die PP hat die Differenzierungsanalyse sogar in den Mittelpunkt ihrer Methode gerückt. Unterschiede erzeugen nicht nur in der Elektrizität Energie. Sie sind es, die eine Idee lebendig halten. Und Lebendigkeit braucht jede geistige Bewegung, soll sie nicht nach dem Abklingen eines schöpferischen Impulses, d.h. Ableben einer charismatischen Gründerpersönlichkeit (Nossrat Peseschkian verstarb 2010) zum Stillstand kommen. Lebendigkeit kann man der PP durchaus zurechnen, das zeigt sich in vielen fachlichen und organisatorischen Entwicklungen und evaluativen Erfolgen.
Die PP zeichnet sich aus durch eine präzise, manualhafte Anleitung verbunden mit Offenheit für das Individuelle, Besondere. Symptomatisch für diese Offenheit und positive Haltung gegenüber den Entwicklungspotentialen des Menschen ist das Ende des 5-Stufentherapie-Prozesses: Nicht die zufriedene Bilanz des erreichten Fortschrittes ist nun Programmpunkt, sondern Zielerweiterung, Perspektivenentwicklung, Zielbestimmung für die nächsten Wochen, Monate, Jahre!
Der transkulturelle Ansatz bereichert das individuumsbezogene Denken und Handeln in der Psychotherapie und dies nicht nur in der Arbeit mit Migranten. Der transkulturelle Ansatz ist ähnlich methodenübergreifend fruchtbar wie die Rogerianischen drei Grunddimensionen einer förderlichen Beziehungsgestaltung. Die Positive Psychotherapie hat aber auch eine gesellschaftlichen Mission: als das therapeutische Echo auf die immer intensivere Begegnung der Kulturen!