Ein EUROPA ? – Betrachtung nach der Europawahl im Juni
2009
Plädoyer für die Befreiung eines Kontinents aus der
Froschperspektive
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gestalten sie aus diesem text ein Schaubild/Mindmap...
>>>>>>>>>oder: Stellen Sie die Thesen zusammen und
formulieren sie Gegenthesen
1. Wichtig ist nur, wer von
„uns" dabei war, wie „wir" davongekommen sind - und dieses „Wir"
ist in allen Mitgliedsstaaten national.
Wer am Wahlabend durch die europäischen Sender zappte, konnte beobachten:
Frankreich berichtete über französische Wahlen, deutsche Sender über deutsche Parteien,
in Österreich drehte sich alles um Hans-Peter Martin, ab und zu kam eine
Schaltung ins Ausland, so, als wären in allen europäischen Staaten
Nationalratswahlen abgehalten worden. Berichterstattung von einer europäischen
Perspektive, mit Augenmerk auf die Figuren, Agenden und Koalitionen im
Europaparlament gab es nirgendwo.
2. Europa wählt, aber es ist eine Wahl ohne Forum, ohne transnationale Debatte.
Wir haben genau da ein Loch in unserem öffentlichen Bewusstsein, wo Europa sein
sollte. Der gesamte Wahlprozess ist so konzipiert. Wir wählen nationale
Parteien - und erteilen ihnen dann gerne eine Lektion, als wäre es völlig
unwichtig, wen wir nach Brüssel schicken.
Wo bleiben eigentlich europäische Parteien, deren Kandidaten durch
Mitgliedsländer reisen, sich den Fragen der Wähler/-innen stellen, Programme
bewerben und einen Wahlkampf machen, der nationale Grenzen hinter sich lässt
und kontinentale Perspektiven eröffnet? Anders gefragt: Warum kann ich als in
Wien lebender Deutscher nicht Daniel Cohn-Bendit wählen, wenn seine Politik mir
gefällt?
3. Wenn EU-Wahlen mehr sein sollen als ungeliebte, Pflichtübungen, dann muss
unsere politische Perspektive nationale Grenzen überflügeln. Das Wahlangebot
darf nicht national beschränkt bleiben. Portugiesen und Polen versprechen
Wählern Verschiedenes, in Brüssel aber tun sie sich notgedrungen zusammen,
funktionieren - mehr oder weniger - als Allianzen, deren Kompromisse
Europapolitik werden. Warum sollten wir ihr Programm nicht direkt anhören und
darüber entscheiden?
Die EU ist an einem Scheideweg: Gegründet als Bündnis souveräner Staaten, das
auf Regierungsebene funktioniert, hält sie gleichzeitig allgemeine Wahlen ab,
ist also weder ein reines Staatenbündnis, noch eine demokratische Föderation
wie die USA. Das amerikanische Modell passt nicht für Europa (schon die
verschiedenen Sprachen und die historischen Traditionen machen es unmöglich),
aber gleichzeitig braucht die Gemeinschaft eine Möglichkeit, gemeinsame Fragen
auch außerhalb von Brüssel zu diskutieren, ein europäisches Bewusstsein und
Strukturen, die es auch global handlungsfähig machen.
Bis wir aber dahin kommen, braucht es mehr, als einen Lissabon-Vertrag. Noch
kocht jedes europäische Land im eigenen Saft, beäugt skeptisch seine Nachbarn -
und betrachtet die EU als Synonym für Gurkenkrümmung und energiesparende
Lampen.
4. Das ist kein Wunder, denn gerade unsere Medien verharren im nationalen
Blickwinkel. Bei so vielen Sprachen bestehen zwar praktische Schwierigkeiten,
einen kontinentalen Dialog in Gang zu bringen, aber es muss doch möglich sein,
mehr Gemeinsamkeit zu leben, als ausgerechnet den Eurovision Song Contest. (Der
ist übrigens der schlimmste Albtraum der FPÖ: Israel ist drin!)
Momentan finden nur die Hartnäckigsten eine Art europäische Öffentlichkeit:
Blogs und Foren, auf denen sie meistens in einer Fremdsprache mit ähnlich
meschuggenen Enthusiasten kommunizieren können. Im Medien-Mainstream gibt es
dazu keine Entsprechung. Dabei haben Arte und EuroNews lletztere in Österreich bezeichnenderweise
nur als Nischenprogramm per Satellit zu empfangen) dass es möglich ist, auch
mehrsprachig Programm zu machen, und wo ein politischer Wille ist, da ist auch
ein finanzieller Weg. Würden wir nicht anders über Europa denken, wenn wir
Europäer dieselben Nachrichten, dieselben Reportagen und europäischen Filme
sehen könnten? Eine Demokratie braucht öffentlich-rechtliche Medien, die
unparteiisch und unabhängig informieren. Warum kann/will sich die Demokratie
Europa diesen teuren, aber notwendigen Luxus nicht leisten?
5. Aus rein nationaler Perspektive wird die EU immer „die da oben"
bleiben, weit weg, bestenfalls irrelevant. Wir kennen ihre Politiker kaum
(wissen Sie, wer etwa der SP- Fraktion in Brüssel vorsteht, oder wer den
Antieuropäern im Parlament? Ich auch nicht) ihre Debatten noch weniger. Brüssel
hat einen immer wichtigeren Anteil an unserem Leben, aber wir wollen es nicht
sehen und die Kommunikation der Inhalte ist verheerend, weil kaum existent -
jedes Gefühl für symbolische Gesten fehlt.
Mit der Abfassung einer europäischer Verfassung beispielsweise wurde ein
früherer Staatschef beauftragt und nach monatelangen Komitee-Sitzungen wurde
den Bürgern höflich aber bestimmt nahegelegt, ein umfängliches, komplexes
Dokument mit einem einfachen „Ja" durchzuwinken. Dass gerade dies ein
identitätsstiftender Moment sein könnte und dass man dafür in direkter Wahl aus
allen Ländern Mitglieder einer verfassungsgebenden Versammlung wählen könnte,
die eine demokratisch legitimierte Verfassung ausarbeiten, darauf war
augenscheinlich niemand gekommen.
6. Ein Europa ohne Öffentlichkeit und ohne demokratische Legitimation bleibt
eine bürgerferne Chimäre, in deren Namen sich keine gemeinsame Zukunft zur
Diskussion stellen lässt. Zusammen stellen Europas 500 Millionen Bürger/-innen
ein politisches und wirtschaftliches Gewicht dar, das es leicht mit den USA und
mit China aufnehmen, und eine wichtige Rolle in der Neuordnung der Welt im 21.
Jahrhundert spielen kann - aber, welcher europäische Politiker würde öffentlich
seine Vision einer EU-Agenda für die nächsten Jahrzehnte darlegen? Und wer
würde ihm zuhören?
Vielleicht aber wollen wir gar keine Perspektiven. Wir wollen keine Zukunft,
wir wollen behalten, was wir haben, wollen lediglich das Schlimmste verhindern.
Veränderung ist Verschlechterung, das ferne Europa lockt niemanden. Daher auch
der Zulauf zu euroskeptischen und rechtsradikalen Parteien der Angst. Die
Zukunft soll bitte woanders stattfinden. Europäische Visionen kann sich im nationalen
Wahlkampf der einzelnen Länder niemand leisten. Für Visionen hat die Welt
schließlich Obama.
7. Hoffnung ist der Rohstoff, der Europa am meisten fehlt. Natürlich,
kommentieren hartgesottene Zyniker, denn von europäischen Perspektiven wollen
Wähler auch nichts wissen, ihr Interesse endet an der Staatsgrenze. Diese
Weisheit ist längst zur Selbstverständlichkeit geworden - aber diese Wahl hat
auch gezeigt, dass sie vielleicht falsch ist: Die einzige europäische Partei
links vom Zentrum, die bei dieser Wahl einen enormen Erfolg verzeichnet hat,
war Europe Écologie - eine französische Partei, die in Namen und Inhalt völlig
europäisch aufgetreten ist und die mit Daniel Cohn-Bendit einen
Spitzenkandidaten mit deutschem Pass nach Brüssel schickt.
Nicht jede Europawahl muss einem Flugzeugabsturz gleichen, wenn es uns gelingt,
die Bedingungen für ein europäisches „Wir" zu schaffen. Schließlich haben
viele Wähler offenbar mehr Lust auf eine europäische Öffentlichkeit, als ihnen
zugetraut wird.
Philipp Blom, in Deutschland geborener
Historiker und Publizist, lebt zurzeit in Wien und hat davor viele Jahre in
Frankreich und Großbritannien verbracht; zuletzt erschien von ihm bei Hanser
„Der taumelnde Kontinent".
(DER STANDARD Printausgabe, 10.6.2009) http://derstandard.at/1244460318332/Kommentar-der-anderen-Vom-Elend-der-euroshypaeshyischen-Oeffentlichkeit