Das Achtsamkeitsbuch

Wer etwas auf sich hält, ist und isst, lebt und stirbt „achtsam“. Dieses Wort ist aus dem gängigen therapeutischen und sozialpolitischen Diskurs nicht mehr wegzudenken. Eine Mode -Erscheinung? Nein, sagen die Autoren in der Einführung: Achtsamkeit ist eine ganz wichtige Ressource für das Leben.

Buchtitel: Das Achtsamkeitsbuch
Autorinnen: Weiss H, Harrer M. E. & Dietz T
Verlag: Stuttgart: Klett-Cotta.2010
Erschienen: 2012

„Entschleunigung der Alltagshektik, die Fähigkeit zur Distanzierung gegenüber der bloßen Teilnahme im Aktivitätsstrudel und mehr Achtsamkeit für die inneren und äußeren Gegebenheiten wären dringend geboten“, meint Jürgen Kriz in seinem Vorwort (Seite7).

Das Buch gibt zunächst ein Begriffsdefinition und weist auf wichtige Komponenten der Achtsamkeit hin: Statt einem automatisch reagierenden „Autopilotenmodus“ einen „Anfängergeist“ zu bewahren: Alles so zu betrachten, als sähe man es zum ersten Mal. Achtsamkeit soll ganz bewusst geschehen, auf die Gegenwart ausgerichtet, akzeptierend und in einer Differenzierung zwischen Beobachtetem und Beobachtenden, fokussiert auf Innenwelt oder Außenwelt, auf Wandel oder Ruhe, auf einen wohlwollenden Zustand „liebender Güte“. Mit dieser Achtsamkeit wächst die Klarheit, der Gleichmut und die Konzentrationsfähigkeit. Gegenüber der tempoübersteigerten Alltagsaktivität kehrt eine gewissen Entschleunigung, Verzögerung, Ruhe ein, dem „monkey mind“ mit seinen herum turnenden Gedanken wird eine stille Beobachtung der kommenden und gehenden Gedanken entgegengesetzt. In der Mindfullness- Based Cognitiven Therapy (MBCT) werden dem „Autopiloten“ achtsames Atmen und ein Body-Scan (d.h. achtsames Wahrnehmen des Körpers), Selbstfürsorge, Umgang mit Gedanken etc. entgegen gesetzt und damit positive Wirkungen bei depressiven Störungen erzielt. Bei borderline- Problematik hilft die Dialektisch- behaviorale Therapie (DBT), die ein skill-training mit vier Modulen vorsieht, bei denen die Achtsamkeit ein zentraler Faktor ist. Weitere Anwendungsbeispiele sind Reduktion von Angst, aber auch Achtsamkeit in Prophylaxe und Früherkennung von Burnout, Achtsamkeit und Schmerzbewältigung, Achtsamkeit in engen Beziehungen u. v. a. m.

Achtsamkeit wird auch eine neuronal integrierende Wirkung auf verschiedensten Ebenen zugesprochen. Nach Hinweisen auf den Weg der Bewusstseinsentwicklung schließt der erste Teil mit Empfehlungen zur Praxis der Achtsamkeit und konkreten Übungsanleitungen.

Teil II beschreibt die Achtsamkeit im Umgang mit der Innenwelt und ist insofern bemerkenswert, weil darin ein Ansatz vorgestellt wird, der Achtsamkeit zentral für wichtig hält, aber sie mit einem zielorientierten, psychodynamisch geprägten Vorgehen kombiniert.

Für diese Arbeit an der inneren Führung wird der Mensch als ein sich selbst organisierendes lebendiges System gesehen, dessen Subsysteme eine gewisse Eigenständigkeit besitzen. Es wird auf die Psychosynthese von Assagioli verwiesen, der mit Persönlichkeitsanteilen arbeitete, ebenso auf das Konzept der Internal Family Systems (IFS) von Schwartz, der entdeckte, dass die Reaktionen von Persönlichkeitsanteilen ähnlichen Prinzipien folgen wie die Mitglieder einer Familie (Seite 142). Es gilt, die Persönlichkeitsanteile zu identifizieren, zu benennen, einen achtsamen Dialog zwischen ihnen zuzulassen und dadurch auch zu entdecken, dass es auch so etwas wie eine Stimme des Selbst gibt, die klar abgehoben von den anderen inneren Stimmen erlebt wird. Mit Hinweisen auf die Selbstführung in Beziehung zu anderen Menschen und konkreten Übungen schließt dieser Teil. Teil III widmet sich der Achtsamkeit in Psychotherapie und Coaching. Hier wird auf die achtsamkeitszentrierten Verfahren Focusing (vertiefte Wahrnehmung des felt sense) und Hakomi (körperpsychotherapeutisches Verfahren) verwiesen und auf das dyadische Prinzip (Streben nach Achtsamkeit zu zweit) und das dialogische Vorgehen aufmerksam gemacht. Teil III, der hier nur angedeutet wurde, schließt wieder mit Übungsanleitungen, die vielfach an Vorgehensweisen in der Hypnotherapie erinnern. Ein Anhang ergänzt das Buch durch ein Glossar, Wirksamkeitsstudien und weiter führende Informationen.

Interessant wären gewisse Gegenüberstellungen als Anreiz für weitere Klärungen. Zwei seien heraus gegriffen: 1) Dem Ablegen des Autopilot – Modus steht (scheinbar?) die psychosomatische Forderung gegenüber „Wo Ich war, soll Es werden“. Darf der innere Beobachter auch „Urlaub“ machen? 2) Frankl betont die Gefahr der Hyperreflexion und setzt ihr die Intentionalität entgegen. Gibt es auch ein Zuviel der Achtsamkeit und nicht nur ein Zuwenig? Gibt es auch „Kontraindikationen“ für den body scan z.B. bei Hypochondrie oder depressiv- ängstlicher Selbstzentrierung als Vermeidungshaltung?

Zwei Antworten haben die Autoren bereits geliefert: Wie kann man eine so grundlegende oder doch so tiefgehende Bewusstseinsschulung verständlich machen? – Die Autoren schaffen das durch eine achtsame Sprache. Wie kann man der Gefahr entgehen, mit der achtsamen Beobachtung eine bequeme Passivität zu kaschieren?

Hierzu die Autoren: „Achtsamkeit führt ..nicht zu einer Distanzierung vom Leben...Ganz im Gegenteil. Achtsamkeit ermöglicht, die Realität immer mehr so wahrzunehmen, wie sie ist.. Über Einfühlung führt sie zu Mitgefühl mit sich selbst und anderen Menschen und darüber hinaus zu ökologischem Bewusstsein und Handeln.“ (Seite 37).

Ein sehr empfehlenswertes Buch!

 

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
19.07.2010
Link
https://pup.schule.at/portale/psychologie-und-philosophie/news/detail/das-achtsamkeitsbuch.html
Kostenpflichtig
nein