Lese-Rechtschreibstörung. Ein Leben mit LRS. Wege und Chancen.

Eine ehrliche, authentische, sehr persönliche und nicht effektorientierte oder belehrende Art der Erlebnismitteilung...

Buchtitel: Lese-Rechtschreibstörung. Ein Leben mit LRS. Wege und Chancen.
AutorInnen: Sprenger D u Sprenger J
Verlag: Schattauer
Erschienen: 2014

Zum Inhalt

"In diesem Buch nehmen wir, ein von Lese-Rechtschreibstörung (LRS) Betroffener und seine Mutter, unsere eigenen Erfahrungen zum Anlass, um über die verschiedenen Aspekte einer LRS zu schreiben." So die Autorin und der Autor im Vorwort. Der erste Abschnitt wirft die Frage auf: Was ist bloß los? Erste Verdachtsmomente auf eine LRS in der Kindergartenzeit werden erwähnt, etwa Orientierungsprobleme oder feinmotorische Schwierigkeiten. In der Grundschule gibt es schon deutlichere Warnsignale wie z.B. langsames Lesetempo, mangelnde Buchstabenkenntnis. Recht anschaulich wird auf die normalerweise vorausgesetzte Objektkonstanz hingewiesen (ein Objekt bleibt, was es ist, trotz Drehungen des Gegenstandes), die aber bei den Buchstaben nicht gilt: ein b ist etwas anderes als ein p oder d. Dies wird demonstriert am Beispiel mit Tassen, deren Henkel ihre Bedeutung beibehalten trotz aller unterschiedlichen Zugriffe und Drehungen.

Der nächste Abschnitt spricht von einer Unterschätzung des Problems und bringt Wissensnotwendiges bezüglich der Ursachen. Drei Faktoren werden angeführt: Die Genetik stellt den basalen Baustein dar, darauf befindet sich die Förderung und als oberster Baustein die Tagesform. Recht einprägsam werden die drei Faktoren als schmale, kleine Bausteine bei schlechter Qualität der drei Faktoren, als große und dicke Bausteine bei guter Qualität dargestellt und als unterschiedliche Bauklötze bei unterschiedlicher Qualität der Faktoren. Je größer, dicker die Bausteine, desto höher wird der Turm, dessen Höhe die Lese-Rechtschreib-Qualität in Prozentwerten angibt (Seite 34ff). Als weitere wichtige Faktoren werden die Zeit angeführt (frühe Förderung ist wichtig) und der psychologische Umgang mit der Scham und dem schlechten Selbstwertgefühl.

Das Buch geht auf Fragen der Diagnostik ein, auf die beschämende Diskrepanz zum Ich-Ideal, auf die gesamtgesellschaftliche Bedeutung (der Tabuisierung) der Lese-Rechtschreibstörung, auf die trotz Computertechnik und Social Media notwendige Fähigkeit des Lesens und Rechtschreibens, sowie auf Unterstützungsmöglichkeiten. Der abschließende Abschnitt reflektiert die Reaktionen der anderen in der Schule, in der Familie, Erziehung - und bringt wichtige Überlegungen zur Emanzipation von der Hilfe durch andere.

Einige Anmerkungen seien gestattet: Nach Meinung des Rezensenten sollte nicht gleich von Störung gesprochen werden, sondern von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, diese können intrapsychische, interpsychische und systemische Ursachen haben, sie können außerdem passager sein, vielleicht Ausdruck einer vorüber gehenden Schwierigkeit in der Passung zwischen Individuum und Systemanforderung. Manchmal kann es nützlich sein, von Schwäche zu reden, diese stellt die Konstatierung einer Problemlage dar, die schon auffällig ist, aber noch nicht den Schweregrad einer Störung erreicht. Die Anlage-Umwelt-Frage spielt hier natürlich auch herein. Die Autorin präferiert das medizinische Modell (gegenüber dem "Pädagogischen Modell"), die "hardware" bildet den Grundstein, die Frage der kindgerechten Didaktik und Methodik stellt sich nicht, die schulische Umwelt bietet daher keine Ursache ersten Ranges, sondern hat den Charakter einer Moderatorvariable "Förderung" bzw. "Tagesform", die die genetisch verursachte Störung verstärken oder mindern kann.

Einen breiten Platz nehmen ein die neurologische, kinderärztliche, internistische, augenärztliche und ohrenärztliche Untersuchung -zur Abklärung, ob hinter oder neben der LRS organische Ursachen bestehen. Dazu kommt eine Statuserhebung der Emotionalität, des Verhaltens und der Persönlichkeit, eine Feststellung der Lese-Rechtschreibfähigkeit und eine Intelligenztestung. Eine (schul)systemische Erläuterung von Kontextfaktoren (z.B. eine sehr unruhige Klasse, schwierige Lehrer) ist nicht erwähnt, sollte aber in der Anamnese enthalten sein. Allerdings werden in den Erlebnisberichten viele schulische Fragen aufgeworfen und die jeweiligen Interaktionen nachvollziehbar geschildert, z.B. in der Frage des Nachteilsausgleiches (mehr Bearbeitungszeit für LRS-Schüler/innen).

Bezüglich der Tagesform: der Begriff geht davon aus, dass die höhere Anstrengung des Menschen mit LRS mehr Konzentration erfordert und dadurch anfälliger ist für Leistungsminderungen bei Müdigkeit oder Lärm etc. Besser wäre die Bezeichnung "Situativer Faktor", weil man mit "Tagesform" eher persönliche Bedingungen meint, hier aber eindeutig auch zwischenmenschliche und systemische Faktoren mit gemeint sind.

Eine originelle und lehrreiche Zusammenstellung von Folgen der Scham, die der Mensch mit LRS zeigt, befindet sich auf Seite 56f., z.B. eine kleine, unleserliche Schrift, Bevorzugung eines sicheren, daher limitierten Wortschatzes. 

Die Autorin beleuchtet auch ihr eigenes Ich-Ideal und den Maßstab, der ihr durch ihre Eltern angelegt wurde. Interessant wäre auch eine kurze Reflexion darüber gewesen, inwieweit sich der Autor an der Autorin orientiert, d.h. der Sohn an der Mutter, inwieweit sie seine Ich-Ideal-Vorstellungen mit(ge)prägt (hat).

Im Vorwort ist das „Wir“ etwas verwirrend, das eine Mal dürfte es für die Autorin und ihren Mann stehen, sonst für sie und ihren Sohn, jedenfalls ist die Ambition, andere Menschen an Suchprozessen und Erfahrungen mit einer umschriebenen Problematik teilhaben zu lassen. 

Die Frage, ob man einzelne subjektive Erfahrungen als exemplarisch ansehen kann, noch dazu, wo im Buch die individuelle Variabilität der Problematik betont wird, stellt sich zwar, findet aber in der ehrlichen, authentischen, sehr persönlichen und nicht effektorientierten oder belehrenden Art der Erlebnismitteilung eine sympathische Antwort – es geht um Beispiele, nicht um Vorgaben! Und es geht um ein lebendiges Modell für die individuelle und gemeinschaftliche Bewältigung einer komplexen Problematik!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
24.04.2014
Link
https://pup.schule.at/portale/psychologie-und-philosophie/news/detail/lese-rechtschreibstoerung-ein-leben-mit-lrs-wege-und-chancen.html
Kostenpflichtig
nein