An den Grenzen der Erkenntnis. Handbuch der wissenschaftlichen Anomalistik

Die Anomalistik beschäftigt sich mit allem, was für den Menschen bedeutsam sein könnte.


Autor: Mayer G, Schetsche M, Schmied-Knittel I u Vaitl D
Verlag: Stuttgart Schattauer 

Erschienen: 2015

Zum Inhalt

  Zunächst einige Vorbemerkungen. Schon im Titel drückt sich eine Spannung aus: „An den Grenzen der Erkenntnis“.  Handelt es sich dabei um Krypto-Anomalien oder um Para-Anomalien (Seite 80), also um Erkenntnisse, die Lücken im vorhandenen Weltbild schließen helfen, oder um neues Wissen, das eine Ablöse des bisherigen Paradigmas erfordert? In dem vorliegenden Buch wird auf diese Aspekte eingegangen.

Auch der Untertitel ist spannungsreich: „ Handbuch der wissenschaftlichen Anomalistik“. „Wissenschaftlich“ heißt, einer (spezifischen) Norm entsprechend, „anomalistisch“ heißt, einer (spezifischen) Norm nicht entsprechend. Dieser Gegensatz kann zur Polarität verwandelt werden, wenn man die Begriffe nicht kategorial, sondern dimensional auslegt, so wie dies auf Seite 81 für die Beziehung zwischen Fakten, Methoden und Theorien dargestellt wird. Das bedeutet, dass man fließende Ãœbergänge  zwischen dem Normalitätsbereich und dem anomalistischen Extra erwägt. Der Rezensent schlägt folgende Betrachtung vor:

Wenn wir uns ein Vierfelderschema vorstellen, mit den zwei Achsen „Gegenstandsbereich“ und „Methodenbereich“, und mit der Unterteilung „wissenschaftlich“ und „unwissenschaftlich, alternativ“  dann ergeben sich folgende Kombinationen: 1) Wissenschaftlicher Gegenstandsbereich und wissenschaftlicher  Methodenbereich, das klassische Terrain der Wissenschaft;  wissenschaftlich heißt: Von der scientific community  anerkannter Bereich (das Wort „Bereich“  drückt die verschiebbaren Grenzen aus). 2) Wissenschaftlicher  Gegenstandsbereich und unwissenschaftlicher, alternativer Methodenbereich. Das wäre die Durchleuchtung wichtiger Inhalte mit neuen Methoden (im Vergleich: man denke an die zunächst nur zögerlich aufgenommenen qualitativen Methoden). Es erhebt sich hier auch die Frage der Beurteilung von „Esoterik“ als besonderem Zugang zur „Wirklichkeit“.  3) Unwissenschaftlicher, alternativer  Gegenstandsbereich und wissenschaftlicher  Methodenbereich – dies wäre die im vorliegenden Buch dargestellte „Anomalistik“, die sich auch den Themen widmet, die die scientific community ablehnt. 4) Der unwissenschaftliche, alternative Gegenstandsbereich und ebensolche Methodenbereich; dies scheint zunächst klar abzuweisen. Bedenkt man aber  eine dem anomalistischen Gegenstand gerecht werdende alternative Methodik, dann ist diese Kombination u.U. eine interessante Erweiterung der in diesem Buch vorgestellten Anomalistik: Eine Anomalistik im engeren Sinn wäre dann die wissenschaftliche Befassung mit dem alternativen Gegenstandsbereich, eine Anomalistik im weiteren Sinn würde die alternative Methodik für alternative Gegenstände mit herein nehmen. Natürlich wären auch hier Kriterien der Forschungsseriosität zu formulieren.

Ein klassischer Witz mag das Ausgeführte illustrieren: Graf Bobby sucht nach dem Haustorschlüssel, den er in einem unbeleuchteten Straßenteil verloren hat. Er sucht den Schlüssel allerdings im Schein einer etwas entfernten Straßenlampe, „weil man da besser sieht!“ Das Licht der Straßenlampe entspricht der Wissenschaftlichkeit,  die unbeleuchtete Stelle fordert zum  alternativen Suchen, dem Gegenstand entsprechenden methodischen Vorgehen heraus. Offensichtlich muss eine andere Suchstrategie gewählt werden, wenn die  â€“ im vorliegenden Beispiel  optische –  gewohnte Informationsbeschaffung  ausfällt.

Diese besondere Wahrnehmungshaltung ist eine Forderung, die den Autoren des Buches sehr wohl bewusst ist.  Es geht darum, „von anderen übersehene Dinge zu beachten und ernst zu nehmen, was andere ignorieren oder ablehnen .. Anomalisten müssen in der Lage sein, herkömmliche Haltungen oder erste Eindrücke auf den Kopf zu stellen.“ (Seite 85f).

Der auf Seite 76 zum Ausdruck kommende Pragmatismus der Anomalistik wirkt in seiner Unverstelltheit sympathisch. Er sagt,  zwar streben Wissenschaft und Anomalistik beide nach Erkenntnis. Aber:“ Die Wissenschaft gibt sich mit Erkenntnissen zufrieden, die sie ´objektiv`  nennt, die aber nicht notwendigerweise einen unmittelbaren Nutzen für die Menschen haben, wohingegen die Anomalistik möglichst all das verstehen will, was für den Menschen irgendwie bedeutsam sein könnte.“

Zum Aufbau des Buches: Nach einer Einführung folgen drei Teile. Der erste befasst sich mit der historischen Entwicklung und theoretischen Debatten, z.B. mit theoretischen Erklärungsmodellen für PSI-Phänomene. Der Teil II beschreibt Forschungsfelder. Es kommt so ziemlich alles zur Sprache: Ob Rutengänger, anomalistische Träume, außerkörperliche Erfahrungen,  Nahtod-Erfahrungen, UFO-Sichtungen Reinkarnationserfahrungen,  Spukphänomene, Feuerlaufen, Astrologie u. v. a. m.

Teil III befasst sich mit Methodologie und Methodik. Es werden unterschiedliche Zugänge zum Gegenstandsbereich beschrieben:  Laborexperimente, Feldforschung, Interview, Fotografien, klinische Zugänge.  Ein besonders unerwarteter, origineller  Beitrag beschäftigt sich mit bildgebenden Verfahren und zeigt die Fallgruben auf, die bei dem Versuch, eine Beziehung zwischen etwa einem Magnetresonanz-Bild und dem Vorhandensein von Psi-Effekten herzustellen, zahlreich vorhanden sind, wie etwa Lärmpegel, Kopf- und Körperbewegungen. Dennoch ergeben sich sehr interessante Zusammenhangsanalysen: Wie zeigen sich Meditation, Hypnose, REM-Schlaf, Hyperventilation und psychedelische Drogen in bildgebenden Verfahren?

Der Bandbreite der Thematik entsprechend ist das Autorenteam weit aufgefächert: Neben Psychologen gibt es zumindest einen Politologen, Historiker, Religionswissenschaftler, Biologen, Philosophen, Chemiker, Physiker, Musiker, Ethnologen!

Das Buch ist spannend geschrieben und informiert nicht nur über Grenzgebiete der Erkenntnis, sondern liefert zugleich ein Lehrstück, wie vorsichtig und umsichtig, skeptisch und dennoch offen  mit Informationen, Interpretationen, Erfahrungen umgegangen werden muss. Es kann daher für einen breiten Leserkreis empfohlen werden!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
21.08.2015
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/an-den-grenzen-der-erkenntnis-handbuch-der-wissenschaftlichen-anomalistik.html
Kostenpflichtig
nein