Diagnose: Besonderheit. Systemische Psychotherapie an den Rändern der Norm.

Der Lebenszusammenhang, den die Autorinnen und Autoren beschreiben, ist von einer existentiellen Wucht gezeichnet: Politische, soziale Traumata, Migration, Diskriminierung, Exklusion, Stigmatisierung.


Autorinnen: Klar S u Trinkl L (Hg)
Verlag: Göttingen: Vadenhoeck & Ruprecht

Erschienen: 2015

Zum Inhalt

 

Der Titel verführt zunächst dazu, an Menschen mit besonderen Fähigkeiten oder Mängeln zu denken: Hochbegabte etwa, oder Legastheniker, oder Personen mit Persönlichkeitsstörungen.. Der Untertitel verrät, dass es sich um einen systemischen Ansatz handelt, wobei es um die Randbereiche der Norm geht; es gibt leiderzeugende Probleme," die mit einer klassischen Individualdiagnostik gänzlich unzureichend erfasst werden." (Seite 8). Nun gibt es keine fundierte Psychotherapie, die die sozialen Determinanten des Verhaltens, Erlebens und Bewusstseins nicht berücksichtigen würde - ob klassisch oder modern. Allerdings ist der Lebenszusammenhang, den die Autorinnen und Autoren  beschreiben, von einer existentiellen Wucht gezeichnet: Politische, soziale Traumata, Migration, Diskriminierung, Exklusion, Stigmatisierung.

Kennzeichnend für die eingeschlagene therapeutische Orientierung ist die entschiedene Kontextberücksichtigung, die durch die Bedürfnisbefriedigung stimulierte Methodenvielfalt und der Mut zu neuen Problembewältigungen auch für Nicht-Therapierbare! 

Die einzelnen Beiträge befassen sich mit Ausschwitzüberlebenden, mit  Entfremdungen und transkulturellen Aspekten der Psychotherapie; weiter mit Regenbogenfamilien, die sich durch besondere sexuelle Orientierung eines oder mehrerer Familienmitglieder auszeichnen; mit Obdachlosen, mit Flüchtlingen etc. Neben diesen sehr informativen Erfahrungsberichten, die sich auf besondere menschliche Schicksale und Situationen beziehen, weist das Buch auch grundsätzliche Aussagen auf: Etwa das Auftragsdilemma zwischen Betreuung, Beratung und Psychotherapie. Es gibt Aufgabenfelder, in denen sich "eine Mischung aus unterschiedlichen sozialarbeiterischen Handlungsweisen" (Seite 91) als notwendig erweist, in der " Betreuung, Vertretung, Intervention, Vermittlung, Beratung, Beschaffung" zum Einsatz gelangen (ebd). Als Haltung wird nahegelegt Lösungsorientierung, Ressourcenorientierung und -aktivierung, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Der abschließende Beitrag stammt von Klar. Die Herausgeberin befasst sich damit, wie man Zugang zu Menschen findet. Sie kommt dabei zu Aussagen über den Menschen, deren Provenienz nicht angeführt, aber leicht nachweisbar ist: Etwa die Voreingenommenheit durch einseitige Erfahrungen oder Erfahrungsinterpretationen(Individualpsychologie: Lebensstil, thematische Apperzeption), die Beeinflussung durch soziale Sanktionen (Verhaltenstherapie), die Nutzung der in jeder noch so engen Situation vorhandenen Freiheitsgrade (Logotherapie und Existenzanalyse) usw.

Die Autorin legt aber das Schwergewicht ihrer Argumentation auf ihre humanethologischen Betrachtungen, aus denen heraus das menschliche Wesen hinsichtlich Identität, Ausdrucksweise, Kontaktverhalten etc. beschrieben wird, wobei bekannte Begriffe auftauchen wie Individualdistanz, Territorialverhalten. Die Autorin plädiert dafür, das Animalische des Menschen zu externalisieren, ihm sozusagen eine eigene Persönlichkeit zuzumessen, eine eigene Stimme zusätzlich zum geistigen und sozialen Austausch. Diese "Person" wird als das "Viech" bezeichnet. Diese Splittung und diese Terminologie bedürfte nach Meinung des Rezensenten noch einer eingehenderen Analyse hinsichtlich der zugrunde liegenden Anthropologie, der Frage der Integrität und Ganzheitlichkeit des Konzepts und den kommunikativen Auswirkungen dieser Begrifflichkeit auf den therapeutischen, begleitenden, beraterischen Kontakt. Konrad Lorenz, OttoKöng feiern ihre "Auferstehung". Wieso hat sich nach den ersten Begeisterungsstürmen über die Vergleiche mit der Tierwelt der Wind wieder gelegt? Der Rezensent ortet ein gewisses Unbehagen bei der therapeutischen Fiktion "Viech". Zwar ist die Externalisierung ein nicht unbekanntes Mittel - man denke z.B. an Ana Ex, die personifizierte Anorexie, oder an Morton Mies, die personifizierte Depression (beide: Institut für systemische Therapie, Wien). Diese fiktionalen Figuren sind aber symptombezogen definiert. Hingegen ist mit der Metapher "Viech" "ein selbständiges Lebewesen gemeint, das man mögen und kennenlernen kann - eine eigenständige Lebensform, die keiner gesellschaftlichen Form unterliegt." (Seite 218). Wie integriert man die personifizierten Externalisierungen oder bleibt es beim lebenslangen Trennen zwischen dem  Schönen und dem Biest?

Der Bedarf an eingehenderer Darstellung ergibt sich auch an anderen Stellen, z.B. bei der Definition des Begriffs „einfache Struktur“ (Seite 92ff). Der Autor beschreibt die Erkundung der Begriffsauffassung durch eine Befragung von 60 Studenten, sie liefert die subjektive Erfahrung oder Meinung zur Lebenswelt, zur Weltanschauung einfach strukturierter Menschen, diese Auffassungen wären aber zu ergänzen durch theoretische Aussagen. Was versteht man unter Struktur? Welche Bedeutung hat die Struktur für das menschliche Erleben, Verhalten, Bewusstsein?

Die Stärke des Buchs liegt in der praktischen Anwendung: Die Autoren setzen sich authentisch mit der Frage der klientengerechten und situationsstimmigen Methode helfenden Handelns auseinander. Sie untermalen ihre Reflexionen mit anschaulichen Fallberichten.

Die Beiträge sind engagiert geschrieben und so konkret und mit so vielen hilfreichen Hinweisen dargestellt, dass man bei Kontakten mit Betroffenen immer wieder zu dem Buch greifen wird, um sich in der Welt der Obdachlosen, der Süchtigen, der Traumatisierten etc. besser orientieren zu können! 

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
28.08.2015
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/diagnose-besonderheit-systemische-psychotherapie-an-den-raendern-der-norm.html
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