Das Messie-Syndrom

Dieses Buch wendet sich einer Störung zu, die erst seit 1985 einen Namen hat, nämlich „Messie-Syndrom“, hergeleitet von mess, dem englischen Wort für Unordnung. Die aus den unterschiedlichsten Gründen Betroffenen sind nicht in der Lage, ihre angesammelten Gegenstände so zu organisieren, dass sie...

Buchtitel: Das Messie-Syndrom. Phänomen, Diagnostik, Therapie und Kulturgeschichte des pathologischen Sammelns
Autorinnen: Pritz A, Vykoukal E, Reboly K, Agdari-Moghadam N
Verlag: Carl-Auer
Erschienen: 2008

...nicht den Lebensbereich einschränken. Wer die Unterschiedlichkeit (in der inhaltlichen Aufbereitung, in der Darstellungsart, im Sprachniveau, in den fachlichen Voraussetzungen des Lesers) in einem Buch versammelt als Orientierungs- und Zugangs-Problem betrachtet, muss belehrt werden: Das Buch weist trotz aller Buntheit eine stringente Ordnung auf: Phänomenologie (Beschreibung der Entstehungsgeschichte der Störung, die Selbstbilder Betroffener, das Erleben der Mitbetroffenen, Fallgeschichten), Diagnostik (in diesem Kapitel kommen die verschiedensten Formen und Symptome zur Sprache), Therapeutische Aspekte ( verschiedene Therapieansätze vom Kunstprojekt bis zur Selbsthilfegruppe), Selbstzeugnisse (in denen Betroffene zu Wort kommen) und abschließend kulturgeschichtliche Betrachtungen.

Der Leser erfährt, wie sehr das Syndrom selbst schillert: Es kann sich um eine Störung im Rahmen einer Zwangskrankheit handeln, es kann ein Organisations-Defizit – Syndrom vorliegen, es kann das Streben nach Vollständigkeit dahinter stehen, sodass jedes Loslassen eines Gegenstandes als Fragmentierung erlebt wird; es kann Trennungs- und Verlustangst zum Behaltenwollen führen u.v.a.m. Aus den vielen Eindrücken seien einige hervorgehoben: Recht anschaulich ist der Messie-House-Index, der an Hand der neben der Anhäufung von Gegenständen noch verbleibenden Nutzfläche eines Wohnraums eine Ausprägungsmessung des Messie-Syndroms ermöglicht. Allerdings müsste man hier kritisch anmerken, dass die absolute Größe der Wohnfläche nicht in Betracht gezogen wird: So ist bei einer gewissen Mindestausstattung von Gebrauchsgütern jemand, der nur über einen kleinen Wohnraum verfügt und keine (finanziellen) Möglichkeiten für nützliche Stauräume besitzt, schneller gefährdet, als Messie verdächtigt zu werden.

Eine weniger deskriptiv als ätiologisch ausgerichtete Darstellung des Messie-Formenkreises bringt eine anregende Unterscheidung von 7 Messie-Typen. Die Ausführungen über die therapeutischen Aspekte zeigen, dass hier noch ein weites Entwicklungsland vorliegt. Die psychoanalytischen Überlegungen zum Messie-Syndrom, die dieses als narzistische Problematik zwischen Überfülle und Leere beschreiben, sind ein Diskussionsanstoß nur für Leser, die bereit sind, sich auf die vielen in der Ausführung enthaltenen Prämissen einzulassen. Einen kulturgeschichtlichen Überblick aus einer spezifischen Perspektive bringt der abschließende Beitrag, der in der Reziprozität der Ausprägung von Nützlichkeit und Bedeutung eine wichtige Formel für die Ausprägung des messie-Syndroms erblickt: Während Gegenstände im allgemeinen ihre (objektive) Funktionalität sichtbar aufweisen, sind die Sammelobjekte (subjektive) Bedeutungsträger für Nichtsichtbares. Der umfangreiche Beitrag wird in einigen Passagen die Leserschaft spalten: Leser, die z.B. mit der eigenwilligen Idiomatik von Lacan vertraut sind, werden den komplexen Gedankengängen und Zusammenhangsproduktionen willig folgen, andere werden ihre Angst vor Unvollständigkeit oder Trennung überwinden und diese Textpassagen loslassen. Insgesamt kann dem Buch attestiert werden, dass es anregt, über eine Störungsform nachzudenken, die noch wenig beschrieben ist.

Die Ausführungen auf Seite vii des Vorworts sind in ihrer philosophischen Grundhaltung als besonders einladender Text hervor zu heben: In einer sehr berührenden Sprache werden die Nöte von Messies nachvollziehbar gemacht und Fragen aufgeworfen betreffend die Spannungen zwischen Konsumieren und Verbrauchen einerseits und zwischen Bewahren andererseits, Spannungen in Bezug auf den Umgang mit Massenproduktion einerseits und Individualität andererseits, zwischen scheinbarer Verfügbarkeit der Welt und ihrer Gegenstände einerseits und dem Erleben der Sehnsucht nach Unerfüllbarem andererseits – alles Fragen, die eigentlich jeden Menschen zu einer persönlichen Antwort herausfordern!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
09.12.2008
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/das-messie-syndrom.html
Kostenpflichtig
nein