Der moralische Instinkt

Was ist Moral? Was ist Ethik? Liegt ein moralisches, moralphilosophisches, ethisches, metaethisches Problem vor? In der philosophischen Literatur werden die Begriffe sehr unterschiedlich gebraucht: Moral als "Kodex" der Sitten und Gebräuche scheint gesichert, Ethik kann sich etymologisch...

Buchtitel: Der moralische Instinkt. Über den natürlichen Ursprung unserer Moral.
Autorinnen: Verplaetse J
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Erschienen: 2011

...herleiten von Charakter oder von Sitte und Brauch, wäre also ziemlich verwandt mit Moral; Ethik wird aber auch als Moralphilosophie gesehen, als Reflektieren über rechtes Verhalten; Moralphilosophie wird allerdings auch enger gefasst, nämlich als Nachdenken über die Begründbarkeit von bestimmten in einem gesellschaftlichen Zusammenhang gesetzten moralischen Pflichten, während Ethik grundlegender als das Nachsinnen über Kriterien und Prinzipien für die Ableitung von moralisch Richtigem und Falschem im Verhalten betrachtet wird. Metaethik hingegen interessiert sich nicht für normative Gebote an sich, sondern für die Sprachstruktur von Normen und für erkenntnistheoretische Fragen in Verbindung mit moralischen, ethischen Forderungen. Die Angewandte Ethik schließlich setzt das ethische Rüstzeug in unterschiedlichen Gebieten ein, sei es in der Rechtsprechung oder in der Humangenetik oder bei multikulturellen Auseinandersetzungen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. All dies mag dem Suchenden verwirrend erscheinen.

Verplaetse begibt sich aber nicht in diesen terminologischen Dschungel, sondern beschreibt stattdessen pragmatisch fünf Facetten der Moral (S 20f): 1) Die Bindungsmoral betrifft das Verhalten gegenüber nahestehenden Menschen, zentral wichtig dabei ist die Empathie. 2) Die Moral der Gewalt wird konzipiert als schlüssiges System in Situationen, bei denen der Überlebenskampf im Mittelpunkt steht.3) Die Moral der Reinigung geht von dem evolutiv ausgebildeten Ekel gegenüber krankmachenden Verunreinigungen aus und verbindet Gut mit Sauber, Böse mit Unrein, Besudelt. 4) Die Moral der Kooperation setzt eine solidarische Rücksichtnahme auf das Wohl der ganzen Gemeinschaft voraus und die individuelle Beitragsleistung zum Gesamtwohl. 5) Die Prinzipienethik begründet und systematisiert die Moral vor jedem Handeln, wichtig sind Prinzipien wie Gleichheit, Freiheit, Würde. Diese fünfte Facette steht als rationale Moral den vier anderen intuitiven, emotionalen Moralfacetten gegenüber. Die fünf Facetten gestalten auch den Aufbau des Buches: Jeder Facette ist ein Kapitel gewidmet. Dem Rezensenten fiel auf der Covergestaltung der Vergleich der fünf Facetten mit den fünf Fingern einer Hand auf! Der Daumen versinnbildlicht die (Prinzipien-)Ethik. Die vier anderen Finger symbolisieren die vier intuitiven Moralsysteme. Gemäß den einleitenden Bemerkungen dieser Rezension würde die Ethik eigentlich nicht auf gleicher Ebene mit den vier anderen Moralen stehen, sondern auf einer Ebene darunter (oder darüber) die Grundlagen der Moralsysteme reflektieren (so wie der Daumen zu jedem der vier anderen Finger eine Gegenüberstellung einnehmen kann).Man kann die Nebeneinander-Anordnung der fünf Facetten aber zulassen, wenn man versucht, in der Anordnung der Facetten eine Entwicklung zu sehen: Eine niedere Stufe würden die Moral der Gewalt und die Moral der Reinigung einnehmen, auf einer höheren Stufe wäre die Moral der Bindung und die Moral der Kooperation anzusiedeln. Ganz oben stünde die auf Rationalität begründete Prinzipienethik. Allerdings meint der Autor, dass es unberechtigt sei, ihm eine hierarchische Anordnung der Moralsysteme zu unterstellen - von der minderwertigen, weil emotionalen, hinauf zur hochwertigen, weil rationalen Moral (S 252). Die Überlegungen des Rezensenten zu den Entwicklungsstufen enthalten aber keine derartige Wertung, sondern eine Aussage zum Ausmaß der Beimischung von Rationalität: Man darf doch annehmen, dass die untere Stufe kaum eine bewusste Rationalität des Handelns aufweist (auch, wenn sie durchaus Regeln kennt), dass die mittlere Stufe schon Reflexionen zulässt, dass aber die höchste Stufe die volle kritisch-rationale, volle ethische Auseinandersetzung mit sich bringt.. Der Autor beschreibt ja auch, dass sich der Mensch dem Diktat anderer Moralsysteme widersetzen kann, dass er die moralischen Reflexe durch Vernunft überwinden kann (S 209). Unter diesen Voraussetzungen wäre die Darstellung der vier plus eins als fünf auf einer Ebene befindliche Ausprägungen vertretbar.

Jedes Kapitel bringt eine Fülle von Erkenntnissen psychologischer, neurobiologischer Forschungen. Was es mit dem Instinkt auf sich hat, beschreibt der Autor selbst:"Die jüngsten Erkenntnisse der Neurobiologie, die in diesem Buch präsentiert werden,zeigen, welche Prozesse im Gehirn moralisches Verhalten begleiten und

ermöglichen, beziehungsweise wie Schädigungen bestimmter Hirnareale moralisches Verhalten beeinträchtigen können. Moral wird nicht nur von sozialen und kulturellen Faktoren bestimmt, sondern auch von Vorgängen in unserem Gehirn.

Moralisches Verhalten ist so zwingend oder flexibel wie die Gehirnzellen und neuronalen Netzwerke, die ihm zugrunde liegen. Die Hirnforschung ermöglicht zudem einen Einblick in die Entstehungsgeschichte der menschlichen Moral.

Aufbau und Funktion unseres Gehirns spiegeln die Probleme und Entscheidungsfragen wider, vor die sich der Mensch während seiner Evolution gestellt sah."(S 22). In jedem Kapitel werden neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse überzeugend als Argumente für den moralischen Instinkt eingebracht, aber auch psychologische und anthropologische, ethologische und biologische Erkenntnisse eingearbeitet. Aus dieser Fülle seien einige Beispiele heraus gehoben.

So bringt das Kapitel über die Moral der Bindung die Sprache auf Bindung, Empathie, Schuldgefühle, Altruismus, aber auch auf die Aggressionshemmung. Diese "kann nicht wirksam werden ohne zumindest den Ansatz einer emotionalen Verbundenheit," (S 69). Und etwas weiter:" Der Prozess, der Hemmungen beseitigt oder ihr Entstehen verhindert, ist die Entmenschlichung oder die Leugnung menschlicher Eigenschaften bei anderen." (S 70). Es folgt eine erschreckende Schilderung von Formen der Entmenschlichung.

Im Kapitel über die Gewaltmoral erörtert der Autor die Sinnhaftigkeit der Gewalt und führt aus:" Wie schrecklich Gewalt für die Opfer..auch sein mag, von den Tätern..wird Gewalttätigkeit nicht als abweichendes Verhalten empfunden. Gewalt hat eine Funktion. Menschen brauchen Schutz vor körperliche Angriffen und dieser Schutz fällt oft in Form von Gegengewalt aus.." (S 77). Der Autor befasst sich außerdem mit Angst und Aggression, mit dem schillernden Begriff der Psychopathie, mit dem aggressiven Lebensstil, mit Gewaltkult und v. a. m. Auf Seite konzediert der Autor, dass in unserer Vorstellung Gewalt und Moral nicht zusammen passen. Dass dies trotzdem möglich ist und Gewalt nicht als Gegenteil der Moral, sondern als eigenständiges moralisches System betrachtet werden kann, problematisiert der Autor selbst: "Dies ist wohl eine der kontroversesten Themen dieses Buches." (S 20). Der Rezensent meint, dass sich die Kontroverse aus der Formulierung ergibt, die einen "positiv konnotierten" Begriff wie Moral und einen "negativ konnotierten" Begriff wie Gewalt zusammen schweißt. Würde man stattdessen formulieren, dass es Verhaltensbräuche, Verhaltenssysteme einer Gesellschaft gibt, in denen (meist physische) Formen von Angriff und Verteidigung ein integrales Instrument für "Überlebenszwecke" darstellen, würde sich der Nebel der erwarteten Kontroverse rasch lichten.

Im Kapitel 3 geht es um Moral und Hygiene, moralischem und universellen Ekel und Reinigungsriten. Besonders interessant findet der Rezensent die Auseinandersetzung mit dem Ekel als Basisemotion und die Überlegung, ob der moralische Ekel eine Form der Gesundheitsprävention darstellt (S 134). Erhellend sind auch die Ausführungen zur Vergewaltigung: "Vergewaltigung beweist, dass die Moral der Reinigung kein gerechtes Moralsystem ist. Nicht der Täter, sondern das Opfer der Vergewaltigung fühlt sich unrein." (S 141). Zwischen Täter und Opfer klafft ein "magnitude gap", wobei die Täter das Getane eher verharmlosen.

Kapitel 4 beschreibt die Moral der Kooperation, kollektiv, wechselseitig, verhaltensökonomisch, u. v. a.m. Hervorgehoben seien die Überlegungen zu Nutzen und Risiko der Kooperation. Hier wird nicht einseitig die Kooperation euphemisiert, sondern auch kritisch auf die Gefahren der Zusammenarbeit etwa durch Missbrauch, Dilettantismus, Unfähigkeit oder Betrugsabsicht hingewiesen (S 160ff). Die Frage, ob Kooperation auf evolutive Weise sich entwickelt hat oder kulturelle Einflüsse maßgeblich waren, hat noch keine eindeutige Antwort gefunden (S 202).

Kapitel 5 befasst sich mit der Prinzipienethik, für eine Ethik, deren Grundlage nicht Emotionen, Intuitionen oder spontane Handlungen sind, sondern rationale Argumentationen S 210). Dieses Kapitel bringt eine Fülle von interessanten Überlegungen etwa zu einer hedonistischen Begründung der Ethik oder einer auf Pflichten aufbauenden, oder zur feministischen Care-Ethik, die gegen die Kohlbergsche Gerechtigkeitsethik opponiert. Aus allen Anregungen sei die Abhandlung von "Ethik im Scan" besonders erwähnt. Wie in jedem Kapitel wird immer wieder auf die neurobiologische Perspektive hingewiesen. Hier geht es speziell darum, dass sich unterschiedliche ethische Grundlagen des persönlichen Verhaltens auch in unterschiedlichen aktivierten Hirnarealen abbilden! (S 245ff).

Der Autor führt im Nachwort aus, dass Kulturen sich nicht auf eine einzige Form der Moral beschränken lassen (S 253). "Jede vereinigt die fünf Moralsysteme in sich, auch wenn ein System gelegentlich dominieren mag." (Ebd.) Allerdings meint der Autor ein Nebeneinander dieser Systeme, nicht eine Durchmischung. Und hier setzt eine Anmerkung des Rezensenten an: Wenn man die Moral der Gewalt und die Moral der Reinigung als "trennende" Systeme der Moral der Bindung und die Moral der Kooperation als "vereinigende" Systeme der Moral gegenüberstellt bzw. als zwei Koordinaten "Absonderung" und "Zugehörigkeit" begreift, dann ergibt sich die Frage nach den unterschiedlichen "Legierungen von Aggression und Libido". Eine prinzipienethisch fundierte Gesellschaft kann daher sehr wohl "Staatsgewalt" einschließen. Freilich hat der Autor auch von Facetten und nicht von Kategorien gesprochen. Und der Autor weist in der Schlussbetrachtung zu Kapitel 5 selbst auf die Verbundenheit hin:" Eine rationale Ethik wird immer unlöslich mit unseren emotionalen Moralitäten verbunden sein. Mit Einfühlungsvermögen, Emotionen und Sichtweisen verbundene Prozesse sind somit keine Begleitumstände, sondern wesentlich für unser moralisches Handeln und unser ethisches Urteilen." (S 248).

Das Buch ist ein origineller Zugang zu Fragen der Moral und der Ethik, lehrreich, spannend, vielseitig und ganzheitlich, wie die vielen psychologischen, biologischen, neurobiologischen Anmerkungen und Beispiele aus der Forschung als Ergänzung zu den philosophischen Überlegungen beweisen! Verplaetses Buch könnte auch im Unterricht der Sekundärstufe II bestens eingesetzt werden.

Kein Wunder, dass dieses Werk den Eureka- Preis für das beste populärwissenschaftliche Sachbuch in den Niederlangen erringen konnte!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
17.11.2011
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/der-moralische-instinkt.html
Kostenpflichtig
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