Geschlechtsdysphorie, Transidentität und Transsexualität im Kindes - und Jugendalter

Das Buch nimmt sich einer wichtigen Fragestellung kompetent und umfassend an


Autor: Preuss W F

Verlag: München E.Reinhardt
Erschienen: 2016

Zum Inhalt

Die Verstimmung in Folge nicht passend empfundener körperlicher Geschlechtsmerkmale, d.h. die quälend erlebte Diskrepanz zwischen seelischem Empfinden und dem dazu  nicht passenden Körper - so könnte man in einer Alltagssprache ausdrücken, was der Fachbegriff "Geschlechtsdysphorie" meint (Seite 33). Der Autor ist ein erfahrener Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Facharztfür Psychotherapeutische Medizin.  Er bringt seine über zwanzigjährige Erfahrung in der Sexualforschung und ihrer Anwendungen ein und adressiert nicht nur (insbesondere Kinder-) Ärzte, sondern auch Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter. Ihre Perspektiven beschreibt er im Kapitel 2 und führt erst nachher in die medizinische  Grundlagen und die Betrachtung der biologischen und der  psychogenetischen Ursachen ein. Die weiteren Kapitel befassen sich mit Besonderheiten der psychosexuellen Entwicklung bei Trans-Jugendlichen, mit Fragen der Diagnostik, Psychotherapie, der multimodalen Behandlung, mit rechtlichen und ethischen Fragen sowie mit Ausbildung und Weiterbildung.

Die Komplexität des Themas wird sichtbar an den unterschiedlichen Facetten und Nuancen, wie sie sich in der Terminologie spiegeln. Fast bräuchte man ein Vokabelheft. Der Rezensent hat die Probe gemacht und versucht, die wichtigsten Nuancen aus dem Gedächtnis wiederzugeben: Mädchen, die eher Buben sein wollen, werden Trans-Jungen genannt, analog verhält es sich mit den Trans-Mädchen.  Als Transgender werden Menschen bezeichnet, die zwar fühlen, dass sie im "falschen Körper" sind, aber die Behandlungs- und Operationskonsequenzen nicht ziehen; von Transsexualität wird gesprochen, wenn die somatische Behandlungsnotwendigkeit angesprochen wird. Außerhalb des medizinischen Kontextes wird das Wort Transidentität verwendet. Mit Transition wird der ein- bis zweijährige Übergangsprozess in die Geschlechtsrolle, die dem empfundenen Geschlechtsidentitätsgefühl der Trans-Mädchen und Trans-Jungen entspricht. Dazu gehört das Coming -Out,  die Alltagserprobung, die begleitenden psychotherapeutische Behandlung, die pubertätsunterdrückende Behandlung, die gegengeschlechtliche Hormonbehandlung (Seite 13).Das Buch zeichnet sich durch eine klare, verständliche Ausdrucksweise aus, durch eindrückliche Falldarstellungen, durch einen breiten Ansatz, in dem sowohl Eriksons Stufe der Identitätsentwicklung  Platz finden als auch die 5 Ebenen des Geschlechts (chromosomal, keimdrüsen-bezogen, hormonell, anatomisch primäre und sekundäre Geschlechtsunterschiede, zerebrale Geschlechtsunterschiede).

Zwei minimale Anmerkungen am Rande: Die Definition der Geschlechtsdysphorie spricht vom "zugewiesenen" Geschlecht (Seite 18).  Es stellt sich die Frage, wer oder was uns diese oder jene Merkmale "zuweist", Gott, Natur, Schicksal..? Wäre es denkbar, vom "vorhandenen" Geschlecht auszugehen?

Der Merksatz auf Seite 19 beschreibt  die Empfindung   als das, was ein Mensch in sich als gegeben vorfindet  und sich nicht aussuchen kann!  Diese deterministisch missverstehbare  Formulierung wurde wahrscheinlich gewählt, um pragmatisch vom  Vorhandenen auszugehen, statt von irgendwelchen Konstrukten. Nicht aussuchbar heißt nicht: unveränderbar. Die Empfindung ist die Reaktion auf die Stimulation eines Sinnesorgans - dauernd im Fluss , der Vergangenheit lerngeschichtlich verbunden, der Gegenwart  gegenüber offen, veränderungsbereit und der Wahrnehmung als komplexer Verarbeitung der Stimulation  bzw. Information verbunden. Kognitionen, Gefühle, Überzeugungen, Interpretationen etc. sind  sehr wohl veränderbar - sonst wäre die Psychotherapie eine Selbsttäuschung und auch die Behandlung der transsexuellen Störungen.

Preuss zitiert auf Seite 25 die Erklärung der American Psychological Association  and  the National Association of School Psychologists (APA), die in zwei Statements gipfelt: Einerseits wird  die Gleichgeschlechtlichkeit als Normalitätsvariante betont, andererseits werden unterschiedliche geschlechtliche Ausdrucksformen als positive Varianten und normal bewertet.

An diesem Zitat ist Dreierlei bemerkenswert: 1) zeigt sich, dass Preuss über den Methodenzaun hinaus blickt, z.B. eben psychologisches Wissen schätzt, 2) wird "Normalität gesetzt", ein mutiges Bekenntnis zur Diversity und 3) wird sichtbar, dass der digitale Mensch der 0/1 Falle entkommen kann und zur Vielfalt jenseits einer binären Klassifikation gelangen kann.

Das Buch nimmt sich einer wichtigen Fragestellung kompetent und umfassend an, es kann allen in psycho-sozial-medizinischen Bereichen tätigen Fachleuten eine wertvolle Orientierungshilfe geben, aber auch in pädagogischen, philosophisch-anthropologischen Aufgabenfeldern Diskussionen anregen!  Sehr empfehlenswert!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
13.06.2016
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/geschlechtsdysphorie-transidentitaet-und-transsexualitaet-im-kindes-und-jugendalter.html
Kostenpflichtig
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