Im Teufelskreis der Lust. Raus aus der Belohnungsfalle.

Das Buch ist angenehm geschrieben, der Autor findet eine gut verstehbare Diktion, seine Begeisterung über das Habituationsmodell wirkt ansteckend!


Autor: Schymanski I
Verlag: Stuttgart Schattauer Reihe Wissen und Leben

Erschienen: 2015

Zum Inhalt

Der Autor verfolgt in diesem Buch seine originelle Idee, das Belohnungssystem als Ursache vieler Störungen zu beschreiben.  Ein historischer Hinweis fehlt allerdings: bereits vor mehr als 150 Jahren wurde das Weber-Fechner’sches Gesetz formuliert: Um Unterschiede in der Reizintensität zu merken bedarf es ungleich größerer Zuwächse an Reizstärke bzw. einfach und salopp formuliert: Je mehr man hat, desto mehr braucht man, um etwas zu spüren -  eine in den alten Zeiten der Psychophysik erstellte Gesetzmäßigkeit und ein Vorläufer des Konzepts des Belohnungssystems - ebenso wie der Hinweis auf Seite 21f  auf ein chinesisches Sprichwort, demzufolge jeder erfüllte Wunsch Kinder bekommt. Hier müsste man nicht in die Ferne schweifen, Wilhelm Busch hat zur vorletzten Jahrhundertwende formuliert: " Niemals: Wonach du sehnlich ausgeschaut, es wurde dir beschieden. Du triumphierst und jubelst laut: Jetzt hab ich endlich Frieden! Ach, Freundchen, rede nicht so wild, bezähme deine Zunge! Ein jeder Wunsch, wenn er erfüllt, kriegt augenblicklich Junge." In der Abfolge Einzahl (der erfüllte Wunsch) Mehrzahl (die Kinder bzw. Jungen) könnte man schon das Grundmuster der Habituation entdecken. Der Autor formuliert seine Recherche-Ergebnisse folgendermaßen: " Alles, was wir uns vorgeblich "Gutes" tun, verbraucht Belohnungsbotenstoffe, entleert die Speicher und desensibilisiert  die Rezeptoren. Die Folgen dieses Grundprinzips lassen sich überall beobachten: Die Ansprüche steigen immer mehr, um glücklich zu sein." (Seite 21). Die Gewöhnung an präsente Reize, die Habituation, ist hilfreich für die Anpassung und Normalisierung, kann aber dazu führen, dass immer häufiger, immer schneller, lauter, bunter, immer verrückter, immer dringlicher Stimulation gesucht wird, bis es zum Missbrauch von Substanzen kommt.   "..der Vorrat an Dopamin erschöpft sich beim Versuch, ständig Lust zu erleben - genau wie die Rezeptoren für alle belohnenden Botenstoffe bei ständiger Stimulation ihre Empfindlichkeit verlieren.."(S 10). Durch die Gewöhnung werden Nervenzellen des Belohnungszentrums nicht mehr stimuliert, damit setzt aber eine Reduzierung des Ausstoßes des beruhigenden Transmitters GABA ein, die Folge: ein psychovegetativer bzw. psychomotorischer Erregungszustand. Dieser Grundmechanismus wird bei den verschiedensten Krankheiten und Störungen aufgespürt. Dass es trotz derselben Ursache so viele verschiedene Symptome gibt, erklärt der Autor durch die Einzigartigkeit jedes Individuums (Seite 24). Der Autor legt sein Habituationsmodell auch an außerordentlichen  Situationen bzw. Bereichen an: Meditation, Flow-Erlebnis, westliche und östliches Denken, Bio-Ernährung, Start in den Tag u. v. a. m.  Es ist eben verlockend, eine Problemlösungsformel für alle Probleme zu haben.

Bei der Frage nach Lebenssinn, Glück und Zufriedenheit und der Erörterung des freien Willens wird allerdings die Grenze des neurophysiologischen  Denkens sichtbar: Zunächst formuliert der Autor seine agnostische Haltung, um dann ( Seite 135) Lust und Befriedigung als die beiden Pole zu definieren, zwischen denen sich das Leben bewege - ein konsequenter Denkschritt des Autors, aber reduktionistisch. Auch der freie Wille wird auf Befriedigung hin orientiert. Ruhe und den Trieben Herr werden, lautet die nicht überraschende Quintessenz für den freien Willen (Seite 179). Teilweise wirkt die Konzentration auf die vollen Speicher, wie wenn ein Autofahrer sich hauptsächlich um genügend Kraftstoff sorgt und die Frage der Fahrtroute dagegen in den Hintergrund rückt. Aber das wäre hier ungerecht. Der Autor bleibt eben konsequent auf der neurobiologischen/-physiologischen Ebene.

Das Buch ist angenehm geschrieben, der Autor findet eine gut verstehbare Diktion, seine Begeisterung über das Habituationsmodell wirkt ansteckend! Es ist ein Buch, das viele Fragen aufwirft und Zündstoff für anregende Diskussionen gibt, z.B. ob der Lebenssinn sich tatsächlich homöostatisch beschreiben lässt oder ob die existentielle Herausforderung oder die humanistisch Konzeption der Kongruenz ergiebiger ist; ob sich das Belohnungssystem wirklich auf Meditation anwenden lässt (richtige Anwendung bewirkt volle Dopaminspeicher) u. v. a. m. Der Autor führt selbst kritische Ãœberlegungen zu den Grenzen seines Ansatzes an. Kritisches Bewusstsein,  viele Denkanstöße und Informationen und die Art und Weise, wie der Autor seinen Lesern begegnet, machen den Autor und sein Buch sympathisch und lesenswert!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
20.05.2015
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/im-teufelskreis-der-lust-raus-aus-der-belohnungsfalle.html
Kostenpflichtig
nein