Missbrauchte Schule!?

Der Autor ist evangelischer Pfarrer, im Schuldienst tätig und hat sich in systemischer und seelsorgerischer Beratung weiter gebildet. Kutting hat bereits in mehreren Büchern seine Anliegen formuliert: Bücher, die sich mit dem Lehrersein und Gesundheit, Spiritualität, kollegialer Supervision, ...

Buchtitel: Missbrauchte Schule!? Die Institution neu erden.
Autorinnen: Kutting D
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Erschienen: 2010

...Fallberatung etc. befassen. Im vorliegenden Buch versucht er, die Schule neu zu "erden", indem er ihr hauptsächlich die Aufgabe zuschreibt, gegenüber dem allseits vermittelten Relativismus wieder mehr Gesinnungsvermittlung, Wertorientierung, Grenzsetzung zu leisten, für ein Bewusstsein für Sitte, Gesetz und Gewissen zu sorgen und die förderlichen oder weniger förderlichen Rahmenbedingungen des Systems zu reflektieren. Kutting sieht Missbrauch an mehreren Stellen: Lehrer können missbraucht werden, wenn sie mit Forderungen überfrachtet werden, Paradigmen können missbraucht werden (ob es nun die Neurobiologie ist mit der Gleichsetzung von Gehirn und Mensch; ob es die Behauptung autopoietischer Entwicklungen im Sozialfeld ist oder ein überzogenes konstruktivistisches Wahrheitsverständnis), die Institution kann missbraucht werden (es werden Personen angeführt, die es schafften, mit einer entsprechenden Ideologie des pädagogischen Eros ihren Missbrauch von Kindern und Jugendlichen zu "legitimieren" und es wird eine Psychodynamik der Täter versucht, die diese allerdings aber nicht in den Systemzuständen begründet, sondern in einer Soziopathie der Missbraucher). Das Anliegen des Autors, das Prozessdenken nicht zu überschätzen und den Inhalt wieder mehr zu betonen, ist nachvollziehbar und sicher wertvoll. Sehr positiv zu bewerten ist auch die Kritik an der Orientierung der Pädagogik an wirtschaftlichen Maßstäben, weiter die Kritik am vom Inhalt losgelösten Kompetenzbegriff. Sehr eindrucksvoll sind die Ausführungen zum "messianischen Kind", von dem man sich im Anschluss an einen zum Sinnvakuum Auffüllen instrumentalisierten Humanismus eine neue Orientierung erwartet. Das umfassende Anliegen des Buches ist einerseits die Vermittlung des Gedankens, dass Prävention nicht nur am Einzelnen ansetzen darf, sondern die Institution, die Organisation ins Visier nehmen muss und dass darüber hinaus z.B. in Fällen des sexuellen Missbrauchs in der Schule die Institution selbst missbraucht wird; andererseits geht es dem Autor immer um den Nachweis, wie wichtig Inhalte, Gesinnungen und eine Kultur der Grenzachtung sind.

Das Buch trifft aber auch Aussagen, die man diskutieren sollte. Dazu gehört die Kritik an den Standards: Dass diese früher "Anforderungen" hießen, somit ohnehin nichts wirklich Neues damit verknüpft sei - wird hier nicht das eigentliche Anliegen der Objektivierung zu gering geschätzt (wiewohl die Kritik des Autors an der Output-Orientierung nachvollziehbar ist)? Wenn behauptet wird, dass jede Schule ihre Gesinnung leben und vermitteln soll, dann würden Summerhill und Kadettenschule friedlich koexistieren (nach einem Zitat auf S 111), Konsenswilligkeit vorausgesetzt - ist hier nicht eine gewisse Skepsis angebracht? Man denkt unwillkürlich an das Paradies, in dem Lämmer neben Löwen arglos, in Unschuld nebeneinander ihr Leben genießen. Man denkt auch an Habermas, dessen konsensuelle Wahrheitsfindung von der Lauterkeit der Wahrheitssucher abhängt. Aber Religionskriege, das Aufeinanderprallen von Weltanschauungen, Wettkampf um Energien und Territorien, Macht und Reichtum, fundamentalistische Lebenskonzepte, für die Toleranz Verrat bedeutet - steht das nicht der Gewissheit einer aus Wertbewusstsein resultierenden Koexistenz entgegen? Freilich kann die Alternative nicht in einem überbordenden Relativismus bestehen. Aber liegt es so klar auf der Hand, was im Ensemble gesellschaftlicher Felder den Vollzug bestimmter Werte verlangt ( S 111)?

Das Schlusskapitel gemahnt an die Kantsche Moral - Rangordnung, die das Sollen über alles stellt (Seite 115). Sicherlich ein verständlicher Gegenimpuls zu einer Auffassung der Schule als Entertainment, aber wäre nicht eine Schiller'sche Hereinnahme der Affektivität, der Neigung, der Freude vorteilhaft, ja pädagogisch notwendig? Emotionalitätsschulung ist gerade in Zeiten der Affektverflachung oder -vergröberung ein wertvolles Anliegen.

Bei etlichen Abschnitten bleibt eine Unklarheit der Adressaten: Manches wendet sich in Du-Form an Schüler und gleitet dann in eine Diktion hinüber, die nur Lehrer oder Eltern anspricht (z.B. S 99f), manches erfordert ein hohes Fachwissen, ohne die man keine eigene Stellung beziehen kann - wie z.B. die Argumentation gegen von Hentig, wieder anderes ist wohl nicht der gesamten deutschsprachigen Leserschaft, sondern eher nur den deutschen Bundesbürgern verständlich (z.B. S22).

Insgesamt enthält das Buch einen wichtigen Appell, den man - und dazu provoziert der Autor - nicht ignorieren kann: Erziehung ist nicht nur Verhaltenstechnik, sondern Wertvermittlung! Klare Grenzziehungen und klare Inhalte sind erforderlich! Ob das implizite Vorwissen (S 114f), der „Grund“ klare Werte hervorbringen kann und über das Wie lässt sich diskutieren...

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
10.01.2011
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/missbrauchte-schule.html
Kostenpflichtig
nein