Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis

1911 gründet Alfred Adler einen Verein, dessen Ziele er mit psychoanalytischer Forschung definierte. 100 Jahre später unternehmen es eine Autorin und zwei Autoren, ein umfassendes und aktuelles Lehrbuch der Individualpsychologie zu schreiben. Sie bezeichnen es als "Psychoanalytische...

Buchtitel: Psychoanalytische Individualpsychologie in Theorie und Praxis: Psychotherapie, Pädagogik, Gesellschaft
Autorinnen: Rieken B, Sindelar B u Stephenson T
Verlag: Springer
Erschienen: 2011

...Individualpsychologie in Theorie und Praxis. Psychotherapie, Pädagogik, Gesellschaft". Alle Bestimmungsstücke dieses Titels sind selbsterklärend, nur die Kombination von psychoanalytisch und (ganzheitlich ausgerichteter) Individualpsychologie lässt an einen schwarzen Schimmel denken. Aber das Autorenteam will mit dieser spannungsreichen Terminologie neben dem Besonderen der Individualpsychologie die grundlegende Verbundenheit zwischen Adler und Freud zum Ausdruck bringen, wie sie schon in der Mittwochgesellschaft gegeben war.

Das Buch hat sieben große Kapitel: 1. die Vorgeschichte und Entwicklung der Individualpsychologie, 2. die individualpsychologische Theorie inklusive Entwicklungstheorie und Krankheitslehre und den sehr interessanten Querverbindungen zu neueren Strömungen der Psychoanalyse, 3. die Technik der individualpsychologisch-analytischen Praxis mit Fallbeispielen, 4. die Neurowissenschaften und die Individualpsychologie, 5. Spezialgebiete: Kinder und Jugendliche, Psychosomatik, Körperpsychotherapie, Gruppenpsychotherapie, Erziehung und Schule bzw. Pädagogik, Psychoedukation, Beratung, Coaching, Counselling und schließlich Spiritualität und Religion. Ein sechstes Kapitel bringt Beispiele (wofür wird nicht näher spezifiziert im Titel, aber es sind Anwendungsfelder für den Nutzen individualpsychologischer Interpretationen, z.B. Dichtung, Politik). Den Abschluss bilden Überlegungen zu Ausbildung, Profession und Wissenschaft.

Das Buch ist gut verständlich geschrieben, wobei sich aber die Textbeiträge insbesondere von Stephenson durch hohe Komplexität auszeichnen. Es gibt viele Anregungen für den psychotherapeutischen Experten, aber auch viele Impulse für Nichtpsychotherapeuten. Z.B. Minderwertigkeitsgefühl und Kompensation, Lebensstil, Gemeinschaftsgefühl, Konflikte, die Entwicklungstheorie - hier insbesondere das Eriksonssche Stufenmodell der Lebensentscheidungen. Für Pädagogen wird besonders der Abschnitt über Erziehung, Schule und Pädagogik Lesegewinn bringen, z.B. die Berücksichtigung des Lebensstils in der Burnoutprophylaxe und die Notwendigkeit der Unterstützung der Lehrer in ihrer Professionalität: Lehrer werden immer mehr für die Leistungen und Verhaltensweisen der Schüler verantwortlich gemacht und das Defizit an Wissen und Skills wird immer deutlicher.

Es ist – wie gesagt- ein sehr informatives, vielseitiges Werk für einen interessierten Leserkreis!

 

Dem Rezensenten seien einige Anregungen bzw. grundsätzliche Anfragen an die Autoren erlaubt. Z.B. 1) Sagt die Verwendungshäufigkeit eines Wortes etwas über seine Bedeutung? Rieken zitiert den Philosophenmönch Wilhelm von Ockham und sein "Rasiermesser", mit dem dieser unnötige Vorannahmen "wegrasiert" und er verweist auf Wittgensteins Aussage (Tractatus 3.328): "Wird ein Zeichen nicht gebraucht, so ist es bedeutungslos. Das ist der Sinn der Devise Ockhams." Rieken schließt daraus: "wird ein Zeichen oft gebraucht, so ist es für die Zeitgenossen bedeutungsvoll." (S 55) Klassisch-logisch wäre der Schluss aufbauend auf Wittgensteins Aussage: Ist ein Zeichen von Bedeutung, wird es gebraucht. Es erhebt sich daher die Frage, wie die Aussage Wittgensteins zu deuten ist. Die schillernde Doppelbedeutung von "gebraucht" ist: a) benötigt (brauchen), b) verwendet (=gebrauchen). Wittgenstein könnte gemeint haben: Wird ein Zeichen nicht benötigt, dann ist es ohne Gewicht und belanglos. Ockhams Rasiermesser würde der Meinung des Rezensenten nach daher dem nicht oder weniger Benötigten, nicht dem Seltenen gelten. Würde man wie Rieken die Bedeutung eines Zeichens an seiner Verwendungshäufigkeit abmessen, würde man nur dem jeweils aktuellen terminologischen Mainstream huldigen. (Oder ist das umgangssprachlich sehr häufig verwendete "Super!" sehr bedeutungsvoll? Ist eine häufig besuchte Internetseite bedeutsamer als eine selten besuchte - nach welchem Kriterium?)

2) Ist das Wesen eines Menschen wie eine "Grundmelodie" zu erfassen? Stephensons Erläuterungen zur transformativen Kraft kreativer Gestaltungen zählen zu den eindrucksvollsten Texten in diesem Buch. Eine Anregung aber auch hier: Auf Seite 260 wird das "Nachspielen" der "Grundmelodien" einer Klientin gefordert. Allerdings wird dazu eine hochkomplexe Matrix als Klaviatur angeboten: Affektregulierung, Mentalisierung, Bindung, Intersubjektivität, Modus von Abwehr und Kompensation, Reifegrad der Struktur, Art des Konflikts usw. werden herangezogen, um die Patientin zu beschreiben. Eine reizvolle Herausforderung wäre die Frage: Wie gelingt es Richard Strauss, Till Eulenspiegel durch ein bzw. zwei Motive so zu charakterisieren, dass man seinen Lebensstil nachpfeifen kann und dennoch seine Subtilität und seine innere Diskrepanz voll erspüren kann? Oder geht es in der Psychotherapie eben nur so komplex?

3) Soll der Arzt das Medikament im Alleingang verschreiben oder dem Patienten die Wahl zwischen Heilungsalternativen anbieten? Rieken meint nämlich auf Seite 403: "Die Philosophie des ´ anything goes ` wäre wenig hilfreich, der Patient wäre ratlos.." Der Arzt sollte nicht verschiedene Möglichkeiten zur Wahl vorlegen, sondern eine Wahl aus Überzeugung treffen. Ist es nicht eine Errungenschaft modernen Medizinverständnisses - wo immer es möglich ist , zu einer von Patienten und Therapeuten getragenen dialogischen Diagnose und Therapie zu finden, wie dies schon Balint angeregt hat?

4) Ist die unterschiedliche theoretische "Erklärung" eines Leidens Grund für Streitigkeiten zwischen Experten? Rieken führt nämlich auf Seite 404 aus, dass bei Fallbesprechungen es dazu komme, dass ein Kollege der Falldarstellung eines anderen widerspreche, "indem er erklärt, er habe einen anderen Patienten, bei dem es sich ganz anders verhalte." Entspricht dies der Erfahrung des Autors? Ist nicht die gegenseitige Akzeptanz der Suche des Fallvorstellenden nach einer passenden Theorie, die am besten erklärt, wie das Leiden zustande kommt bzw. aufrecht erhalten wird, dem konstruktivistischen Verständnis, dem multimodalen Ansatz, dem individuellen Zugang angemessener als die konkurrierende Suche nach einer für alle maßgeblichen Letztbegründung? Es gibt viele Schlüssel, einige davon sperren, manche sogar besonders gut. Der Rezensent kennt eher diese Fallbesprechungspraxis, bei der der Fallvorstellende ein Theorieauswahl trifft, die durchaus diskutiert werden kann, aber im Mittelpunkt der Diskussion stehen dann die Konsequenzen aus der getroffenen Referenztheorie, die Arbeitshypothese: Durch welches therapeutische Vorgehen kann dem jeweiligen Patienten am besten geholfen werden?

5) Ist die Psychotherapie-Szene von Konkurrenzkampf geprägt? Sindelar attestiert nämlich mutig den Psychotherapiemethoden einen "nervösen Charakter" (Seite 423). Mit diesem Ausdruck meinte Adler eine destruktive Haltung, wenig Gemeinschaftsgefühl, viel Geltungsstreben bei gleichzeitigen Minderwertigkeitsgefühlen. Der Rezensent hat in seiner mehrjährigen Mitarbeit im Psychotherapiebeirat im Gesundheitsministerium in Österreich sehr wohl auch viele Beobachtungen anstellen können, hatte aber nicht den Eindruck, dass die Konkurrenz heftiger sei als in der Wirtschaft, insbesondere auf dem freien Markt. Ist das sympathische Eintreten der Autorin für einen Blick über den Tellerrand und einen Methodenpluralismus jenseits von Konkurrenz (der sich im Trend zu vielen Kombinationstherapien und zunehmend integrativen, aber auch eklektischen Ansätzen ja bereits zeigt) von der Erwartung geprägt, Psychotherapeuten müssten ganz anders miteinander umgehen als der Rest der Welt? Graduell ja, aber prinzipiell?

Noch eine Anregung: Stephenson unterstützt seine Ausführungen zu Ambivalenz, Konflikt etc. durch eine Abbildung auf Seite 74, die ein komplexes Wechselspiel zwischen entwicklungsfördernden und -hemmenden Konstellationen, Kontinuität und Wechsel, aktivem Herangehen und Vermeiden zeigt. Er demonstriert mit diesen Verschränkungen viele Erkenntnisse Adlers. Vielleicht wäre bei einer Neuauflage eine Illustration einiger dieser Verschränkungen durch Hervorhebungen in der Grafik hilfreich.

Trotz des wertvollen Plädoyers für einen geisteswissenschaftlichen Zugang zur Psychotherapie spürt der Rezensent eine gewisse Ergänzungsnotwendigkeit zu den Darstellungen im 6. Kapitel, die hier auszuführen aber den Rahmen sprengen würde. Beispielhaft seien aufgezählt: Die Symbolik und insbesondere die Verwendung von Metaphern, die Möglichkeiten linguistischer Analysen, die Erkenntnisse der Jungianischen Therapie bezüglich Märchenliteratur, die Frage nach der möglichen Rolle von Archetypen (hier gemeint als literarische Grundmotive) in der Individualpsychologie, der narrative Ansatz in der Psychotherapie. Der spielende, spielerische Mensch wird mit Metaphern und Fiktionalismus kurz in Verbindung gebracht, aber es wären ergänzbar differenzierende Aspekte des Spiels, nicht nur als identitätsförderliche Aktivitäten, es wären ergänzbar Beispiele für die Rolle des Spiels in der Psychotherapie, obwohl der "als-ob"-Charakter des Spiels erwähnt wird. Der Abschnitt über die Politiker Obama und Guttenberg ist spannend zu lesen, aber im Stil eher ein journalistischer Beitrag, es wäre ergänzbar die Ausarbeitung der Unterschiede zwischen Kompensation und Überkompensation; die Erläuterungen zu Erkenntnissen der Katstrophenforschung würden mehr Inhalte betreffend Risikofaktoren und Resilienz erwarten lassen (letztere insbesondere interessant als Kompensationsfähigkeit im individualpsychologischen Sinn), schließen aber mit dem originellen Hinweis, Melancholie als angemessene Reaktion in Ausnahmekonstellation zu verstehen.

Vom Rezensenten besonders geschätzte und dem Leserkreis nahezulegende Texte im Buch sind die Ausführungen von Stephenson zur individualpsychologischen Entwicklungstheorie und Krankheitslehre, die Darstellung der therapeutischen Beziehung von Rieken (und hier insbesondere die klaren Sätze zu Abstinenz, Authentizität und Selbstenthüllung), die Beschreibung des Erstgespräches und der individualpsychologischen Diagnostik von Sindelar. Dies als pars pro toto, weil es viele hervorzuhebende Darlegungen gibt wie z.B. über den Umgang mit dem Körperlichen, die Gruppenpsychotherapie, das individualpsychologische Verständnis von Beratung u. v. a. m.

Insgesamt daher: Eine anregende Lektüre, die einigen Diskussionsanstoß gibt, aber in toto das individualpsychologische Selbstbewusstsein auf vielfältige und subtile Weise stärkt! Die Leserschaft erhält mit diesem Buch einen vielfältigen Überblick über die Bedeutung individualpsychologischen Denkens und dieses mittels Aufzeigen der Aktualität der Einsichten Alfred Adlers und durch Anbindung an moderne Entwicklungen in der Therapielandschaft!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
08.09.2011
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/psychoanalytische-individualpsychologie-in-theorie-und-praxis.html
Kostenpflichtig
nein