Verkehrspsychologie

Wenn man dieses Buch liest, ja selbst, wenn man es nur durchblättert, dann wundert man sich: Wie kommt es, dass ein derart vielseitiges Terrain psychologischer Beobachtung, Erforschung und Einflussnahme so wenig bekannt ist? Höchste Zeit also für ein Buch, das sich mit der Verkehrspsychologie...

Buchtitel: Verkehrspsychologie. Grundlagen und Anwendungen.
Autorinnen: Chaloupka-Risser C, Risser R u Zuzan W-D
Verlag: facultas
Erschienen: 2011

...befasst. Das Arbeitsfeld ist riesig, denn es umfasst "alle Fortbewegungen außer Haus ab der Schwelle" (S 50). Und es handelt von Menschen, "die ermüden können, die Fehler machen können, die Schwächeanfälle haben können, die es sich bequem machen und bestimmte ..Regeln ignorieren können.." (S 5).Ein komplexes Forschungsgebiet, z.B. wegen des Machtgefälles zwischen motorisierten und anderen Verkehrsteilnehmern, oder, weil über jede Laborsimulation hinaus reichend, oder auch wegen der geringen Kontrollierbarkeit problematischen Verhaltens im Verkehr. Das mit vielen Forschungsergebnissen, aber auch Theorien und Modellen ausgestattete Buch informiert in einem Inhaltsverzeichnis, das durch seine Detailliertheit bereits ein Konzentrat des Werkes bietet, und in der Einleitung wird der Aufbau des Buchs nochmals im Wesentlichen zusammengefasst.

Die Kapitel 1 bis 9 gehören zum ersten Teil: Theoretische Grundlagen der Verkehrspsychologie und behandeln Themen wie: Was ist Verkehr? (Z.B. die Auswirkung der Infrastruktur auf das Verkehrsverhalten) , Anforderungen an das Verkehrssystem (z.B. Probleme, die der Verkehr bereitet), was ist Verkehrspsychologie? (Z.B. Bewertung der Verkehrssicherheit vor Ort und "Verkehrskonflikte"); Wahrnehmung (z.B. Zuverlässigkeit von Aussagen Beteiligter und von Zeugen), Motive und Kriterien ( z.B. Motive und Verhalten im Verkehr), Theorien der Fahraufgabe (z.B. die Verkehrsverhaltenslehre), die Erforschung des Verkehrsverhaltens (z.B. Straßen- und Wegenetzanalysen), psychologische Aspekte der Verkehrserziehung und Verhaltensbeeinflussung (z.B. welche Verhaltensweisen sind für Kinder typisch?).

Der zweite Teil des Buches befasst sich mit Maßnahmen aus verkehrspsychologischer Sicht. Die 11 Kapitel betreffen die Verkehrserziehung in der Praxis (z.B. für den Schüler förderliches Lehrerverhalten), Fahrerausbildung (z.B. Defizite von Fahranfängern), Marketing und Kampagnen (z.B. Anreizmaßnahmen), Eignung zur Verkehrsteilnahme (z.B. die Verkehrszuverlässigkeit), beratende und therapeutische Intervention (z.B. Lenkerrehabilitation), Gestaltung der Verkehrsumwelt (z.B. die selbsterklärende Straße), Charakteristika der Fortbewegungsart (z.B. Telematik für Fußgänger), zielgruppenrorientierte Maßnahmen (z.B. Frauen und Mobilität), Gestalter und Erhalter des Verkehrssystems (z.B. Öffentlichkeitsarbeit), Forschung als Maßnahme (z.B. Erforschung von "Nebenwirkungen"), Nachbarwissenschaften (z.B. Verkehrsrecht) und Entwicklungen in der Verkehrssicherheitsarbeit (z.B. die Nullvision).

Ganz sicher hat die Erwähnung von nur 10% der behandelten Themen bereits neugierig gemacht auf diese Lektüre. Das Buch wird sicher viele Auflagen erleben. Für die nächste Auflage einige Hinweise: Es wäre schön, wenn die Definition der Psychologie etwas ausführlicher erfolgen könnte. Die zitierte Definition von Rohracher (S 49), den der Rezensent noch persönlich hören konnte, ist sehr kompakt. Expliziter wäre es anzuführen, dass die Psychologie eine Wissenschaft ist, die sich mit dem Bewusstsein, Erleben und Verhalten befasst, indem sie diese beobachtet, zu erklären (Einbeziehung der Psychologie als empirische Wissenschaft) und verstehend zu erschließen versucht (Einbeziehung der geisteswissenschaftlichen Tradition der Psychologie) bzw. vorherzusagen und unter Kontrolle zu bringen versucht, um konstruktiv intervenieren zu können. Auch den Aufbau der Psychologie als Wissenschaft (Methodenlehre, Grundlagen wie Allgemeine Psychologie, Differentielle Psychologie usw.) sollte man kurz streifen und darauf hinweisen, dass die Verkehrpsychologie zur Angewandten Psychologie gehört. Dies alles wissen die Autorin und die Autoren, aber nicht alle Leser. Die Ergänzung sollte also deswegen erfolgen, weil das vorliegende Buch viele Interessenten anlocken wird, die vielleicht noch nichts über Psychologie erfahren haben und hier einen praxisbezogenen Einstieg finden.

Interessant ist der Einbau der Intentionalität bei der Abgrenzung der Verkehrspsychologie: " Eine Skikonkurrenz ist allerdings deshalb kein Teil der Verkehrspsychologie, weil die Fortbewegung nicht um der Ortsveränderung geschieht, sondern aus sportlichen Zwecken." (S 50). Oder auch bei der Definition der Verkehrserziehung: "Verkehrserziehung sind daher alle intentionalen Lernvorgänge, in denen für die Sicherheit des Verhaltens im Straßenverkehr relevante Einstellungen und Verhaltensweisen erworben werden." (S 136). Das zeigt die Offenheit des Autorenteams für ein erweitertes Verständnis der Psychologie. Kritisiert wird in diesem Sinn der Wunsch, "sozialwissenschaftliche Forschung in naturwissenschaftlicher Weise zu betreiben und ´exakte` Ergebnisse zu liefern, wobei die inhaltlich-qualitative Auseinandersetzung zu kurz kommt. Man erhält so zwar exakte Daten, die aber nichts aussagen." (S 43f).

Auf Seite 60ff werden als Gestalt- und andere psychologische Wahrnehmungsphänomene im Straßenverkehr neben Tendenz zur guten Gestalt (die Wahrnehmung drängt nach einer gewissen Ordnung), Unterschiedsschwellen (Unterschiede müssen ein bestimmtes Ausmaß haben, um wahrgenommen zu werden) u. a. m. auch Verdrängung, Projektion, Realitätsleugnung, Verschiebung, Rationalisierung und Regression angeführt. Hier wäre anzumerken, dass es sich dabei um sogenannte Abwehrmechanismen handelt, für die Freud postuliert hat, dass sie unbewusst erfolgen. Wenn man sie also hier verwendet, muss man entweder die Rolle des Unbewussten klarstellen (über die auf Seite 49 zugestandene Unbewusstheit bei durch Routine gewonnene Automatismen oder bei Einstellungen hinaus gehend) oder die auf einer Ebene mit Adaption, Wahrnehmungsverschmelzung etc. erfolgende Anführung dieser Abwehrformen erläutern.

Auf Seite 78 wird ausgeführt, dass die oft Monate nach einem Unfall erfolgende Befragung mit sich bringt, dass dazwischen Informationen rund um das Ereignis aufgenommen werden und die Tendenz besteht, diese Aussagen mit der allgemeinen Meinung zu ´ harmonisieren `. Andererseits wird auf der folgenden Seite angeführt: "Spätere Ergänzungen sprechen nicht gegen, sondern eher für die Glaubhaftigkeit einer Aussage." Hier wäre es wertvoll, auf das Phänomen und die Erforschung der sog. false memory einzugehen (Untersuchungen haben gezeigt, dass der menschliche Geist dazu tendiert, Erinnerungslücken sehr detailliert zu schließen, wobei diese Erinnerungsfüllungen oft keine Erlebnisbasierung besitzen).

Beim Thema Radfahren (S 228f) würde sich der Rezensent wünschen, dass auf die verführerische Regelung eingegangen wird, dass Radfahren gegen die Einbahn erlaubt ist. So stimmt das zwar nicht, es fehlt die Ergänzung, dass das nur für entsprechend mit Zusatztafeln ausgestattete Einbahnen gilt. Aber aus persönlicher Erfahrung kann gesagt werden, dass die unberechtigte Generalisierung stattfindet: Radfahren gegen die Einbahn ist erlaubt! Und das stellt ein gewisses Gefahrenpotential dar. Dass, wie im Buch auf Seite 229 ausgeführt, in den Niederlanden die Beweislast umgekehrt wird, und Autofahrer die Unschuld am Unfall mit einem Radfahrer beweisen müssen, ist nach Auffassung des Rezensenten einerseits weltfremd (wer aggressive Radfahrer erlebt hat, die auf ihren - oft vermeintlichen- Rechten bestehen), andererseits eine Vereinseitigung der gegenseitigen Verantwortung, die Autofahrer und Radfahrer haben. In einem partnerschaftlichen Verständnis sollten beide Verkehrsteilnehmer aufeinander und auch auf die unterschiedliche "Stärke" (das Machtgefälle) Rücksicht nehmen.

Beim Thema "Frauen und Mobilität" könnte detaillierter auf die Transportprobleme mit Kinderwagen eingegangen werden.

Bei der oben angeführten Abgrenzung zur Bewegung im Rahmen der Sportpsychologie könnte explizit die Skipiste thematisiert werden, da die hier immer häufiger werdenden Unfälle eine verkehrspsychologische Intervention sinnvoll machen. Es könnte aufgezeigt werden, was in diesem Bereich schon unternommen wurde.

Abgesehen von diesen möglichen Ergänzungen für eine weitere Auflage ist der Autorin und den Autoren ein beeindruckender Einblick in einen faszinierenden Teilbereich der Angewandten Psychologie mit einer beträchtlichen Detailfülle und einem großen Anregungspotential gelungen! Da es im Verkehr um Leben und Tod gehen kann, sollte das Buch möglichst viele Leser finden und wäre auch für den Unterricht ab der 10. Schulstufe empfehlenswert!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
17.12.2011
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/verkehrspsychologie.html
Kostenpflichtig
nein