Zwischen Neurobiologie und Bildung

Auch extreme biologische Beeinträchtigungen müssen nicht ein Stopp-Schild für Weiterentwicklung und aufbauende Bildungsarbeit bedeuten, vorausgesetzt, man lässt sich nicht durch die scheinbar unabänderlichen Grenzen deprimieren. Dazu ist notwendig, dass man nicht bei der normativen Außensicht...

Buchtitel: Zwischen Neurobiologie und Bildung
Autorinnen:Zimpel A F
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Erschienen: 2010

...stehen bleibt, sondern in einer Innensicht versucht zu verstehen, was den betroffenen Menschen zu seinen Handlungen treibt, noch mehr: was seine Handlungen in seinem Selbsterleben sinnvoll erscheinen lässt und nachvollziehbar macht. Diese Innensicht soll freilich die Außensicht nicht ersetzen, im Gegenteil: Ein Switchen zwischen Innen- und Außenperspektive in einer Art Supersicht (in Anlehnung an den Begriff Supervision) kann neue Einsichten vermitteln und einen weiteren Schritt begünstigen, nämlich die Selbstreflexion, aus der schließlich pädagogische Ideen resultieren, nämlich, wie geht man mit einem bestimmten Menschen pädagogisch so um, dass auf sein Selbst – und Situationserleben Rücksicht genommen wird? Diese Abfolge von Schritten nennt der Herausgeber Systemische Syndromanalyse (in Abhebung zur sogenannten Romantischen Syndromanalyse, bei der es um die schöpferische Kompensation biologisch bedingter Schwierigkeiten geht, und zur Rehistorisierenden Syndromanalyse, die ein Pedant zur Patientenkarriere darstellt).

Soweit das Anliegen des Buches, das im dritten Teil nochmals explizit formuliert wird.

Im zweiten Kapitel werden Fallberichte geliefert, die die Anwendung der Systemischen Syndromanalyse demonstrieren, es handelt sich um Menschen mit Autismus, Trisomie 21, Tourette –Syndrom u. a. m. , die durch Innensicht entscheidend gefördert werden konnten.

Warum die Rezension im Krebsgang fortschreitet, erklärt sich daraus, dass die ersten drei Kapitel versuchen, einen theoretischen Unterbau, eine Grundlage für die Betonung der Innensicht aus der Warte der Biologie und der Mathematik zu liefern. Es wird die Notwendigkeit von Subjektivität betont, anhand der Tatsache der Unberechenbarkeit von komplexen Geschehnissen werden Objektivierungsversuche ad absurdum geführt, ebenso anhand der großen Variabilität des Zustandekommens von „Normalität“ als statistischem Durchschnitt. Die Rückkoppelung von Abläufen im Sinn einer Kybernetik zweiter Ordnung wird als rudimentäre Form einer Selbstbeobachtung, Selbstbeschreibung, Selbstbewertung, die zu einer biologischen Stabilisierung führen, interpretiert. D.h. diese dauernde – mit Computerprogrammen für Iterationsprozesse simulierbare- Selbsterschaffung wird als eine grundlegende Form des Erlebens betrachtet, die wiederum für die biologische Stabilisierung notwendig sei. Das Erleben wird als Rückseite des Lebens gesehen, was dem Herausgeber einerseits zwingend, andererseits auch unheimlich erscheint (S 50). Kein Wunder, möchte man sagen, werden doch die bewussten Erlebnisweisen des Menschen und die rudimentären Formen der Rückkoppelung gleichermaßen als Erleben bezeichnet. Die Stabilisierung eines bestimmten Musters wird auch anhand von mathematischen Eigenwertüberlegungen demonstriert (Mathematik als Wissenschaft von Mustern). Dieser erste Teil liest sich spannend, aber bewegt sich doch auf dem schmalen Grat zwischen Modellhaftigkeit und Reduktionismus.

Resümee: Obwohl der Gedanke der Introspektion nicht neu ist, sondern die Überwindung der black box, die Grundlegung der kognitiven Psychologie bzw. Verhaltenstherapie bewirkte und ein entscheidendes – und wohlbekanntes- Kriterium für die Indikation zur Psychotherapie darstellt;obwohl die Versuche, zur Innenansicht eines anderen Menschen zu gelangen, durch die weitreichende Empathieforschung hinlänglich bekannt sind; obwohl die Suche nach einem hilfreichen Kontext, in dem das Verhalten keine Störung darstellt, nicht neu ist (siehe Netzwerktherapie-Ansätze, offene Psychiatrie, Sternbergs kontextuelle Subtheorie der Intelligenz etc.)ist der Gedanke, auch bei biologisch extremen Bedingungen vom Erleben der betroffenen Menschen auszugehen, ein wertvoller Impuls, den die Lektüre nachhaltig und pädagogisch fruchtbar vermittelt!

Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
28.06.2010
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/detail/zwischen-neurobiologie-und-bildung.html
Kostenpflichtig
nein