Sterbebegleitung in Europa am Beispiel Deutschlands und der Niederlande mit einem Exkurs...

Das Buch beschreibt die Sterbebegleitung in Deutschland, dann in den Niederlanden und schließlich überblicksartig in anderen europäischen Ländern.


Autoren: Pott G u Meijer D
Verlag: Stuttgart: Schattauer.
Erschienen: 2015

Zum Inhalt

Die Autoren leiten aus dem technischen Fortschritt in der Medizin den Wunsch der Menschen nach selbstbestimmtem Leben und persönlichen Entscheidungen ab, beides muss aber reguliert werden, wenn es um die Frage des Lebens und Sterbens geht. Pott und sein Koautor haben eine Reihe von Fachleuten als Beratungsgremium beigezogen aus verschiedenen Bereichen der Medizin, weiter aus der Unternehmensberatung, Pflegewissenschaft, Biologie, Medienwissenschaft und Theologie u.a. m.

Das Buch beschreibt die Sterbebegleitung in Deutschland, dann in den Niederlanden und schließlich überblicksartig in anderen europäischen Ländern. In den meisten Ländern Europas ist die aktive Sterbehilfe und der assistierte Suizid verboten, hingegen die passive Sterbehilfe (Sterbenlassen durch Stopp lebensverlängernder Maßnahmen) und die indirekte Sterbehilfe (Therapie am Lebensende durch Einsatz sedierender bzw. schmerzlindernder, aber u.U. lebensverkürzender Mittel)  erlaubt. Die Autoren widmen sich eingehend der heiklen Frage der Euthanasie, z.B. Vorgehen bei Demenzerkrankten, bei psychiatrischen Fällen, bei Koma, bei Minderjährigkeit.  Es wäre interessant, hier mehr über die zwei wetteifernden Werthierarchien, nämlich der Selbstverfügung und der Lebenserhaltung, zu erfahren. Die Autoren beschreiben ethische Positionen in Deutschland und den Niederlanden. Ein wichtiger Abschnitt ist den Willenserklärungen zu Krankheitsfragen gewidmet.

Der bisher angeführte Text-Teil des Buches wird auf Niederländisch im Wesentlichen wiederholt und durch eine englischsprachige Zusammenfassung abgerundet. (Dieser Sprachtransfer wirkt zunächst wie eine Umfangsaufstockung, versteht sich aber aus der Nachbarschaft und Zusammenarbeit von Deutschland und den Niederlanden).

Die Darstellung ist klar, informativ und praxisrelevant. Ein mittlerer Teil des Buches, nämlich die 30 Seiten (38 bis 68), die sich mit Ethik befassen, könnte aber für eine weitere Auflage an Präzision dazugewinnen. So wäre eine Argumentation zu vertiefen, die einen Wunsch zu helfen postuliert. Der sei evolutionär, in den Spiegelneuronen fundiert empathisch und er sei "leidensästhetisch" stimulierbar.  Es finden sich außerdem viele kleine klärungsbedürftige Texte. Einige Beispiele dafür.

Auf Seite 39f heißt es :" Ethik ist ein Teilgebiet der Philosophie, das zentrale Fragen unseres Daseins stellt: Was können wir wissen? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?  Und Ethik fragt eben auch nach der guten Handlung: Was soll ich tun?" Ethik beschäftigt sich mit der letzten Frage, aber die drei anderen Fragen Kants makieren die Erkenntnistheorie, Metaphysik und Anthropologie, drei selbständige Teilgebiete der Philosophie..

Auf Seite 41 wird Aristoteles zitiert, der eine Ethik der Plausibilität vertreten habe. Ergänzt werden sollte: Die angeführte "Nikomachische Ethik"  zeichnet sich insbesondere durch eine Position der maßvollen und rationalen Mitte zwischen Extremen aus.

Auf Seite 43 wird konstatiert, "das Naturrecht steht deshalb zunehmend in der Kritik, weil es vornehmlich eine Satzung ist."  Und kritisierbar sei auch der "naturalistische Fehlschluss" des Naturrechts. Aber: Allgemein wird das Naturrecht als Gegensatz zu Satzungen, diametral zum Rechtspositivismus oder diese übergeordnet, angesehen. Und wegen der in der Natur des Menschen verankerten Moral entfällt auch der naturalistische Fehlschluss von der Deskription zur Präskription.

Auf Seite 45 schreiben die Autoren: "Von der Betrachtung des Mitleids geraten wir in eine Intersubjektivität, die nicht allein das Primat der Sozialwissenschaften oder der Psychologie ist." Der Rezensent versteht Intersubjektivität als einen Ausdruck für überindividuelle Geltung, für zwischenmenschlichen Konsens (Objektivität ist meist nicht erreichbar, aber Verständigung schon). Dieser ist nicht auf bestimmte Wissenschaften eingeschränkt.

Auf Seite 48 wird die Fürsorge-Ethik von Gilligan erwähnt - hier fehlt die Gerechtigkeitsethik von Kohlberg als Kontrast. Während die Fürsorge jeden Einzelfall für sich betrachtet, sucht die Gerechtigkeitsorientierung nach allgemeinen Prinzipien des Handelns.

Auf Seite 52 wird De Waal erwähnt: Moralische Gefühle sind Bausteine der Moral, die Menschen und Primaten teilen.  Aus dieser Bemerkung der Autoren lassen sich interessante Fragen formulieren: Haben Primaten eine Moral? Ist die "Hackordnung" eine basale "moralische" Regelung?

Aus Platzgründen sei nur hingewiesen darauf, dass die Gedanken zur "Leidensästhetik" (der sterbende Körper entfaltet eine appellierende Schönheit), zur intuitiven Hilfsbereitschaft (der Mensch erfasst ganzheitlich eine Situation und die in ihr vorhandene altruistische Einsatzmöglichkeit) wahrscheinlich viel Interessantes bergen - aber die Darstellung im Buch ist zu skizzenhaft, um darüber wirklich befinden zu können. Manches müsste auch sprachlich überprüft werden, z.B. auf Seite 59 der Text: "Den Begriff der intuitiven Ethik halte ich für den Nahbereich im Umgang mit Leidenden als selbstevident durch neurokognitive Abläufe und Reaktionen, evolutionär schon bei Primaten nachweisbar und vermittelt z.B. durch Spiegelneurone, definiert.  Dies ist ein Akt der Moralpsychologie .. der für sich betrachtet, keine A-priori Bedingung besitzt."  Was meint der Autor mit einem "Akt der Moralpsychologie", worauf bezieht er sich dabei, wie untermauert er die Aussage, dass kein A-priori vorliege?  Der Rezensent spürt das wichtige Anliegen des Autors und plädiert dafür, diese und andere bedeutungsüberladene Textstellen aufzugliedern.

Abgesehen von den kritischen Anmerkungen zu einem Teil des Buches liegt aber mit diesem Werk eine wichtige Klarstellung vor, die alle Aspekte der Sterbebegleitung umfasst, inklusive dem wachen Bewusstsein für die Autonomiewünsche Sterbenskranker, es gilt palliativ, aber nicht paternalistisch zu handeln. Es gibt viele praktische Hinweise, z.B.wie man sich auf Reisen bezüglich Willenserklärungen verhält, wie man eine Lebenswunscherklärung formuliert u. v. a. m.  Ein - nochmals gesagt - wichtiges Buch, weil es ein Thema anspricht, das für uns alle eine hohe Relevanz besitzt!

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Meta-Daten

Sprache
Deutsch
Anbieter
Education Group
Veröffentlicht am
30.03.2015
Link
https://www.edugroup.at/bildung/paedagogen-paedagoginnen/rezensionen/existenz-entwicklung-tod/detail/sterbebegleitung-in-europa-am-beispiel-deutschlands-und-der-niederlande-mit-einem-exkurs-zur-intuiti.html
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